„So geht es denen, die den Schwur brechen und ihre Siedlung aufgeben wollen,“ endete die Alte ihre Erzählung.
***
Nach der Überschwemmung blieb der Regen aus und die Ernte des Frühgemüses fiel spärlich aus. Die vor der Flut geretteten Vorräte gingen schnell zur Neige. Die Wildenbrucher stellten oben im Wald Kaninchenfallen auf und wer Bogen und Pfeile besaß, ging auf die Jagd. Aber auch so reichte es kaum noch zum Leben. Die Kinder durchstreiften den Wald in der Nähe der Siedlung auf der Suche nach Käferlarven und aßen sie vor Hunger gleich vor Ort. Die Kleinsten bekamen aufgeblähte Hungerbäuche vom ständigen Wasser trinken, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Mit hohlen Augen und blassen Gesichtern gingen die Wildenbrucher ihrer Hof- und Feldarbeit nach.
„Die schwarze Dame will ein Opfer haben,“ murmelte Norberts Mutter am Abendbrottisch.
Ein Teller Radieschen, gerade zwei oder drei für jeden, und eine Schüssel Brühe mit ein paar Stückchen Kaninchenfleisch waren alles, was auf dem Tisch stand.
„Sie ist wütend. Wir haben sie erzürnt,“ hauchte die Mutter in ihrem weinerlich-klagenden Tonfall.
„Wie sollen wir sie denn erzürnt haben?“ fuhr Norbert trotzig auf.
Aber der Vater rief ihn sofort zur Ordnung. „Halt den Mund. Du bringst nur noch mehr Unglück über uns.“
Norbert schleuderte dem Vater einen wütenden Blick zu.
Du weißt es doch selber besser!
Hans Lederers Miene blieb hart. „Kein Wort mehr, Norbert!“
Grete kam zu Leika, um sich von ihr Rat zu holen wegen Wanda. Der Säugling wollte nicht wachsen. Wanda schrie nahezu ununterbrochen mit hochrotem Gesicht. Aber auch Leika wusste Grete und ihrem Kind nicht zu helfen.
Es war Gerlinde Hüttner, die als erste raunte, Gretes Säugling sei ein Götterkind. Bald wurde es in der gesamten Siedlung hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Oliver ging herum wie gelähmt. Grete klammerte ihr Töchterchen schluchzend an sich. Sie kam nicht mehr aus der Hütte, versteckte sich und ihr Kind vor allen außer Oliver.
Den einen Nachmittag, als er von den Feldnersohns kam, traf Norbert Leika allein in der Wohnküche an. Er verstaute Bogen und Köcher bei seinen Sachen unter der Schlafstätte und setzte sich mit knurrendem Magen zu ihr an die Herdstelle.
„Leika, was ist ein Götterkind?“
Sie blickte kurz auf, dann machte sie eine zornige Handbewegung und widmete sich wieder dem Putzen des Gemüses für den Abendimbiss. Es waren nur wenige verschrumpelte Möhren, die in der Schüssel schwammen.
„Aberglaube!“
„Alle reden darüber, Leika. Was soll das sein, ein Götterkind?“
„Hör nicht hin. Sie hören auch wieder auf, davon zu reden.“
Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.
Maja klärte ihn auf. Er hatte sie am Abend von der Feldarbeit abgeholt und die beiden gingen gemeinsam zum Dorf zurück.
„Alle reden davon, Gretes Kind sei ein Götterkind, aber niemand will etwas darüber sagen, was das bedeuten soll.“
Maja blieb stehen und sah Norbert scheu an aus ihren braunen Augen, die er so liebte.
„Weißt du‘s denn nicht?“ flüsterte sie.
„Woher soll ich es denn wissen, wenn es mir keiner erklärt?“
Sie rieb sich Erde von den Händen.
Stockend meinte sie: „Die... die Götterkinder sind nicht wie die anderen Kinder, die geboren werden. Mutter hat es mir erklärt. Sie werden geboren, weil...“
Maja blickte zu Boden, während sie hauchte: „Weil sie zu den Göttern zurückwollen, von denen sie gesandt sind. Sie wollen nicht bei uns auf der Erde leben, wie andere Kinder. Deshalb sind sie so anders und wachsen nicht richtig.“
Norbert begriff nicht. „Wie – wollen nicht bei uns auf der Erde leben?“
Er wunderte sich, warum Maja Tränen in den Augen hatte.
„Bert... Weißt du denn nicht, was mit ihnen geschieht?“
Es traf ihn wie ein Schlag. „Was?“
„Sie müssen geopfert werden – den Göttern.“ Sie hauchte es kaum hörbar.
Es dauerte eine Weile, bis Norbert seine Sprache wiederfand. Er griff Maja an den Schultern.
„Aber du glaubst das nicht, oder? Du würdest so was nie mitmachen, nicht wahr?“
Mit bebenden Lippen wandte sie sich zur Seite.
„Wenn die Götter es doch fordern – Wenn es doch ihr Wille ist...“
Norbert konnte nicht mehr an sich halten.
„Das ist nicht der Wille der Götter!“ schrie er Maja an. „Götter, die so was wollen, gibt es nicht! Nur die Dämonen fressen Menschen! Und die helfen uns nicht, niemals!“
Maja hielt sich mit beiden Händen den Mund. Entsetzt starrte sie ihren Freund an. Ein stummes Schluchzen schüttelte sie.
Atemlos redete Norbert auf sie ein: „Wenn die das machen, gehen wir weg, Maja! In Altenweil gibt es einen Gelehrten, der würde mich in die Lehre nehmen. Wir...“
Mit einem Aufschrei fiel sie ihm ins Wort: „Bert! Rede nicht so! Wir sind Siedler! Wir dürfen nicht gehen. Der Fluch!“
„Ich hab keinen Schwur getan! Und außerdem würd‘ ich ja später wiederkommen. Und dann töte ich die schwarze Dämonendame!“
Sie weinte an ihn geklammert. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf.
Norberts Herz raste, aber er konnte nicht anders, er schleuderte es ihr noch einmal entgegen: „Wenn die das tun, gehe ich!“
Lange hielten die beiden sich umschlungen.
Endlich flüsterte sie ihm ins Ohr: „Bleib heute Abend da, Bert, mein liebster Bert! Wir wollen zusammen auf meinem Lager schlafen. Wenn wir uns nur lieb haben, können wir das alles überstehen!“
Norbert nickte. Aber in seinem Innern schwärte eine Wut, die er lange nicht mehr gespürt, die er längst vergessen geglaubt hatte.
***
Das Gerede über Wanda hörte nicht auf. Als der Zeitpunkt des Frühlingsopfers näher rückte, wurde es nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand gesagt. Die Männer bestätigten es einander offen, wenn die Vorbereitungen des Frühlingsopfers zur Sprache kamen.
„Sie ist ein Götterkind!“
Oliver und Grete verbargen sich in ihrer Hütte. Auch zur Feldarbeit ließ Oliver sich nicht mehr blicken. Aber es fragte auch niemand nach ihm oder Grete.
Bei den Feldnersohns versuchte Norbert ein paar Mal, das Thema anzusprechen, das ihm so ungeheuerlich vorkam. Aber jedes Mal verbot Björn ihm, darüber zu reden. Eine bedrückende Stille herrschte an diesen Abenden in Björn Feldnersohns Wohnküche, in der sonst auch in dieser Notzeit noch so häufig geplaudert und gesungen wurde.
„Es ist ein schlimmes Jahr,“ sagte Majas Großmutter dann mit ihrer brüchigen, drohend klingenden Stimme. „Wir müssen den Fluch lösen, mit dem die Götter uns belegt haben für unsere Sünden.“
Maja nahm Norbert bei diesen Worten fest an der Hand und sah ihn flehend an. Aber er spürte nur die Wut, die hinter seinen Augen brannte.
***
Es war drei Tage vor dem Frühlingsopfer, die Blumenkränze waren geflochten und von den wenigen Feldfrüchten, die die Hofgemeinschaft hatte, waren die besten beiseitegelegt. Norbert war zum Abendimbiss am Hof seines Vaters.
Mit nur ganz leicht zitternder Stimme erklärte Norberts Mutter: „Zum Frühlingsopfer geben wir die Wanda den Göttern zurück. Wir bringen sie der schwarzen Dame. Dann wird der Segen wiederkommen.“
Norbert hatte geahnt, dass es kommen würde. Insgeheim hatte er darauf gewartet. Obwohl sein Herz zu rasen begann, stand er auf. Alle starrten ihn an. Hans Lederer richtete sich ebenfalls auf, aber als Norbert ihm mit bleichem Gesicht in die Augen sah, schwieg er, anstatt zu tadeln. Norbert ging geradewegs auf den Vater zu. Seine Fäuste ballten sich von ganz allein.
Er wusste nicht, ob seine Stimme vor Angst oder vor Wut zitterte, als er hervorstieß: „Sag ihnen, dass es nicht geschehen wird!“
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