Irgendwann, war ihr klar geworden, dass sich in ihr ein Wandel vollzogen hatte. Ein Wandel, der ihr leichter gefallen war, als sie vermutet hatte und der sich so leise vollzogen hatte, dass es ihr wie von einem Tag auf den anderen vorkam. Hatte sie zu Beginn, als die Behinderung Simons mehr Vermutung, denn eine Tatsache war, an sich selbst gezweifelt, dass sie der Aufgabe jemals gewachsen sein würde, so wusste sie mit einem Mal, dass sie (von wem auch immer) alles zur Verfügung gestellt bekommen hatte, dass sie brauchen würde. Aus Verzweiflung war Zuversicht, aus beginnender Ohnmacht war Gewissheit geworden, die es ihr ermöglichten, den Umständen und Zuständen, mit einer liebevollen Selbstverständlichkeit zu begegnen, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Bis zum Zeitpunkt, an dem sie diesen Wandel erfahren hatte, war sie abgemagert und mit tiefschwarzen Ringen unter den Augen (die sich auch mit dem besten Makeup nicht mehr vertuschen lassen wollten), dem Rest der Menschheit begegnet. Etwas, das sie mit annähernd ausreichendem Schlaf und einer mehr oder weniger gesunden Ernährung, einigermaßen wieder in den Griff bekam.
Anders als wie jene Änderung, die sich in ihrem Bekannten- und Freundeskreis vollzog. Hatte sie sich zu Anfang noch mit der Hoffnung getragen, auf Verständnis in diesen zu treffen, wurde ihr alsbald bewusst, dass sie mehr Bekannte wie Freunde hatte. Keiner in diesem Kreis, hätte es jemals gewagt, offen jene Ansichten zu äußern, die ihnen im Gesicht geschrieben standen. „Ein behindertes Kind! Und auch noch so missgestaltet! Was da wohl passiert ist? Was soll denn aus dem einmal werden? Ob sie wohl daran Schuld hat?“
Anfänglich enttäuscht, wie sich diese sogenannten Freundinnen verhielten – die Einladungen zu diesen wurden seltener bis gar nicht mehr ausgesprochen – hielt sie es bald mit dem Ausspruch ihrer Mutter: „Die Familie bekommst du mit, die Freunde kannst du dir aussuchen!“
Ohnehin ließen ihr, Simons Bedürfnisse, kaum Zeit, für solche Dinge, wie sich den neuesten Tratsch über dieses und jenes anzuhören. Erstaunt darüber, wieviel zusätzliche Qualität ihr Leben dadurch erhalten hatte, sich nicht mit dem Geschwafel unbefriedigter und gelangweilter Hausfrauen, abgeben zu müssen, sagte sie ihrem Sohn Dank dafür, dass er sie davor bewahrt hatte, so zu werden, wie jene Frauen, die sie als Freudinnen, bezeichnet hatte. Simon, von dem sie nicht wusste, wie viel er wirklich von dem verstand, was sie zu ihm sagte, schenkte ihr auch hierbei ein Lächeln. Es war einer jener Augenblicke, in der ihr eine der Tataschen bewusst geworden war, die sie, so sie dazu fähig gewesen wäre, aus ihrer beider Leben, entfernt hätte.
Simon würde nie in der Lage sein, auch nur einen Satz, kaum ein Wort so aussprechen können, wie es ein anderes Kind tat. Nie würde er in der Lage sein, aufzustehen, um nach draußen zu gehen, weil er das Verlangen danach hatte, mit anderen Kindern zu spielen. Niemals würde er ein Bild malen, dass sie sich dann auf den Kühlschrank kleben würde oder ein Lied singen, wofür sie ihm, ganz stolze Mutter, applaudieren würde. Eine Katze oder einen Hund streicheln können.
Nue würde er ihr direkt sagen können, wenn ihm etwas weh tat, ihm etwas ge -oder missfiel.
Immer wieder war sie versucht, jenen Gott den ihr die römisch-katholische Kirche, als alles und jeden liebenden Gott verkauft hatte, zum Teufel zu wünschen. Hätte dieser, der Teufel, sich auch darüber gefreut. Als jedoch der Verdacht in ihr aufkam, dass, wenn es den himmlischen Vater nicht geben würde, auch der Sohn keine Daseins-Wahrscheinlichkeit haben würde, sparte sie sich die Energie.
So wich ihre innere Unausgeglichenheit, welche nicht zuletzt deswegen entstanden war, dass sie – wenn auch nur zwischendurch - auf einen weißbärtigen Gott gehofft hatte, der partout nicht gewillt war, einen Finger zu rühren, der Gewissheit, dass es besser wäre, sich auf das zu verlassen, wozu sie selbst in der Lage war zu tun.
Nichtsdestotrotz verspürte sie in ihrem Inneren, dass sie nicht alleine war. Irgendetwas, so war sie sich sicher, gab es etwas zwischen Himmel und Erde (oder sonst wo), dass die Sache, wie sie das Leben manchmal nannte, zusammenhielt. Etwas, an das sie sich wenden konnte.
Gedanken, die sie für sich behielt. Es reichte ihr, sich dieses Gefühls zu erinnern.
Als es darum ging, Simon auf die Einschulung vorzubereiten, besuchte sie zwei infrage kommende Schulen für beeinträchtigte Kinder, wie der Amts Esel jene Kinder betitelte, die mit einer Behinderung geboren worden waren. Die nächste Herausforderung mit der sie sich konfrontiert sah. Mit Simon im Rollstuhl hatte sie sich auf den Weg gemacht, um beide zu besuchen. Das Gefühl, dass sie dabei beschlich, glich einer Hilflosigkeit, derer sie sich, kaum dass das Problem anstand, kaum entledigen konnte. „Wie soll das funktionieren“, fragte sie sich immerzu. „Was ist, wenn er einen Krampfanfall bekommt? Wer wird ihm die Beine massieren? Was ist, wenn ich gerade unterwegs bin und ich nicht schnell genug hier sein kann, um mich um ihn zu kümmern?“ Fragen, welche die Lehrerinnen bemüht waren zu beantworten. Doch so groß es deren Bemühen auch war, ihre Bedenken zu zerstreuen, blieb immer noch jenes Quantum Zweifel, dass sie zu Beginn fast verzweifeln ließ.
Schließlich hatte sie sich für jene Schule entschieden, die näher an ihrem Zuhause lag. Claudia, ganz stolze Mutter, brachte Simon am ersten Tag zur Schule. Nachdem sie ihn im Rollstuhl in die Klasse geschoben hatte, wobei sie ihren Abschied so lange wie nur eben möglich, hinausgezögert hatte, ging sie nach draußen zu ihrem Wagen und setzte sich hinein.
Zum ersten Mal seit sechs Jahren, würde sie von ihrem Sohn für eine so lange Zeit getrennt sein. Erst nachdem eine halbe Stunde vergangen war, und sie keinen Anruf der Schulleitung erhalten hatte, entschied sie sich, loszufahren.
Die ersten Tage vergingen, ohne dass etwas vorgefallen wäre. Doch dann, am Freitag der ersten Woche, kam der Anruf, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte. „Frau Stahlheimer“, meldet sich die Direktorin, die sich offensichtlich um eine ruhige Stimme bemühte, am anderen Ende der Leitung. „Könnten sie bitte schnell kommen.“ Claudia war augenblicklich in Alarmstellung. „Es sieht so aus, als hätte Simon einen Krampfanfall gehabt. Es geht ihn mittlerweile wieder einigermaßen gut, aber ich denke, es wäre besser, wenn sie ihn abholen kommen.
„Ja, natürlich“, sagte Claudia. „Ich mache mich sofort auf den Weg.“ Kaum hatte Claudia das Telefonat beendet, hatte sie sich bereits ihre Jacke und ihren Schlüsselbund gegriffen und war auf dem Weg zu ihrem Auto. Es fiel ihr schwer, sich zu beruhigen, doch es half nichts. Es würde nichts bringen, wenn sie ihren Wagen, um einen der sechs Bäume wickeln würde, die irgendein Pseudo-Grüner, ausgerechnet am Rand jener Straße hingestellt hatte, die sie entlangfahren musste.
Nachdem sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, steckte sie den Zündschlüssel in das Zündschloss und drehte ihn um. Binnen einer viertel Stunde hatte sie - mehr als nur einmal hatte sie unterwegs das Tempolimit überschritten - die Schule erreicht.
Laufend legte sie die paar Meter zum Klassenzimmer zurück. Dort angekommen riss sie die Tür, ohne vorher angeklopft zu haben auf, und stürmte hinein. Hektisch blickte sie sich um, suchte Simon, den sie schließlich an einem der Fenster in seinem Rollstuhl sitzen sah. Ohne irgendjemand zu begrüßen ging sie zu ihm hin, beugte sich zu ihm hinunter, um ihm mit zittrigen Händen, über sein schweißnasses Gesicht zu streichen.
„Hallo mein Süßer“, sagte sie zu ihm.
Simon lächelte sie an.
„Es waren nur wenige Minuten“, hörte sie eine der Lehrerinnen sagen, die von hinten an sie herangetreten war. „Plötzlich hat er einen Krampf bekommen. So schnell konnten wir gar nicht bei ihm sein, da war er…, irgendwie weggetreten.“ Claudia die hörte, was die Lehrerin sagte, reagierte nicht darauf. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Simon. Aus seinen blaugrauen Augen drang ihr ein Lächeln, ein zartes kaum wahrnehmbares Funkeln entgegen, kaum dass sie vor ihm hingekniet hatte. „Wollen wir nach Hause fahren“, fragte sie ihn.
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