Eberhard Weidner - TODESSPIEL

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Die achtzehnjährige Psychologiestudentin Zoe Bergmann ist auf dem Weg von ihrem Elternhaus in Nürnberg zu ihrer Studentinnen-WG in München. Obwohl sie nicht gern bei Dunkelheit fährt, konnte sie erst sehr viel später als geplant losfahren. Außerdem regnet es in Strömen, sodass sie bereits überlegt, ob sie rechts ranfahren und das Ende des starken Regens abwarten soll. Aber dann wird der Regen schwächer, und sie fährt weiter.
Doch plötzlich steht ein riesig wirkender Mann im Schlafanzug und mit einem merkwürdigen Hut auf dem Kopf mitten auf der Straße und zwingt Zoe zum Ausweichen. Allerdings gerät ihr Wagen auf der regennassen Straße ins Schleudern, kommt von der Straße ab und prallt gegen einen Baum.
Nach dem Aufprall ist Zoe zwar etwas benommen, ansonsten aber unverletzt. Doch ihre Freude darüber ist nur von kurzer Dauer. Denn im selben Augenblick, als sie sich an den Mann erinnert, der ihr Ausweichmanöver verschuldet hat, fühlt sie sich beobachtet. Als Zoe daraufhin den Kopf wendet, um aus dem Seitenfenster zu schauen, blickt sie direkt in das Gesicht des Mannes, der sie wie ein debiler Irrer angrinst. Erst aus der Nähe sieht Zoe, was die Krempe des Hutes, der Regen und die Dunkelheit bislang vor ihr verborgen haben. Und was sie sieht, gleicht eher einem Albtraum als einem menschlichen Gesicht.
Zoe schreit gellend und wünscht sich sehnlichst, sie hätte den Mann überfahren …
Nachdem die Studentin von ihren Eltern vermisst gemeldet wurde, landet der Fall zwei Tage später auf dem Schreibtisch von Anja Spangenberg. Die Kriminalhauptkommissarin bei der Vermisstenstelle der Kripo München beginnt sofort zu ermitteln und befragt als Erstes Zoes Mitbewohnerinnen und Eltern.

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Danke, lieber Gott! , dachte sie, als zum ersten Mal in ihrem Leben ein Gebet tatsächlich erhört wurde. Doch dann musste sie sich wieder auf das unkontrollierbare Fahrzeug konzentrieren. Sie spürte, wie es von der Straße abkam. Sobald die Vorderreifen den Asphalt verließen, hörte die Schleuderbewegung abrupt auf. Dennoch rutschte das Fahrzeug noch immer zu schnell über den leicht abschüssigen, unebenen Untergrund. Es brach durch mehrere Büsche, ohne dadurch allerdings merklich langsamer zu werden. Dann sah Zoe im Scheinwerferlicht einen Baumstamm vor dem Auto auftauchen. Sie wollte das Lenkrad herumreißen, um ihm auszuweichen, doch es war zu spät. Es krachte, splitterte und klirrte ohrenbetäubend laut, als die linke Frontseite des Wagens mit dem Baum kollidierte, und das Fahrzeug kam sofort ruckartig zum Stillstand.

Den Bruchteil eines Augenblicks später gab es einen ohrenbetäubend lauten Knall, als die Airbags ausgelöst wurden. Unter ihnen auch der Frontairbag im Lenkrad, der sich in wenigen Millisekunden komplett entfaltete und aufblies und Zoes Körper, der durch den Aufprall nach vorn geschleudert worden war, zusammen mit dem Sicherheitsgurt stoppte.

Zoe stöhnte laut, als sich der Gurt schmerzhaft in ihren Oberkörper grub und sie mit dem Gesicht gegen den prallen Airbag stieß. Doch der entleerte sich augenblicklich wieder, sobald er seine Aufgabe erfüllt hatte, und wurde schlaff.

Nach all dem Lärm empfand Zoe die Stille, die nun folgte, zunächst als vollkommen. Doch dann konnte sie das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Ticken des rasch abkühlenden Metalls hören.

Sie stöhnte erneut, als sie, noch immer halb benommen, den Kopf hob. Ihr Brustkorb und ihr Gesicht taten weh; doch es war nicht sehr schlimm. Und ansonsten schien ihr nichts zu fehlen. Es sah also ganz danach aus, als hätte sie großes Glück gehabt und den Unfall dank Sicherheitsgurt und Airbag halbwegs unverletzt überstanden. Es hätte aber auch leicht anders ausgehen können.

Und das alles nur, weil dieser Idiot mitten auf der Straße stand!

Jäh wurde sich Zoe wieder des merkwürdigen Mannes bewusst, der den verhängnisvollen Geschehensablauf der letzten Minute erst ausgelöst hatte, indem er sich mitten auf die Fahrbahn gestellt hatte. Die alte, längst vergessen geglaubte Furcht vor dem Räuber aus einem Kinderbuch, dessen schlimmstes Vergehen es gewesen war, der Großmutter des Kasperls eine Kaffeemühle zu rauben, wurde erneut in ihr wach.

Obwohl sie den Unfall nahezu unbeschadet überstanden hatte, fühlte sie sich noch immer in Gefahr. Gleichzeitig hatte sie plötzlich das überwältigende Gefühl, beobachtet zu werden.

Zoe wandte den Kopf, um aus dem Seitenfenster zu schauen und blickte direkt in das Gesicht des Mannes, an den sie soeben gedacht hatte. Er stand gebückt neben dem Wagen, presste seine knollenartige Nase und beide Hände gegen die Scheibe und grinste wie ein debiler Irrer. Erst jetzt, aus unmittelbarer Nähe, sah Zoe, was die Hutkrempe, die Dunkelheit und der Regen bislang gnädigerweise vor ihr verborgen hatten. Und was sie sah, glich eher einem Albtraum als einem menschlichen Gesicht.

Sie schrie gellend und wünschte sich, ihr Stoßgebet von vorhin wäre wie all die anderen ebenfalls nicht in Erfüllung gegangen und sie hätte den Mann überfahren.

Das hast du jetzt davon, du dumme Kuh!

Der Mann verzog bei Zoes Schrei das verunstaltete Gesicht zu einer Grimasse, einer Mischung aus Schmerz und Wut, und knurrte dabei laut. Dann trat er einen Schritt zurück, riss die Tür auf und schlug Zoe kurzerhand mit der rechten Faust gegen die linke Schläfe.

Zoe verlor zwar nicht das Bewusstsein, verstummte aber dennoch. Sie war benommen. Ihr Kopf pendelte haltlos auf ihrem Hals hin und her, und sie stöhnte leise. Sie sah nur noch verschwommen und nahm jedes Geräusch gedämpft wahr.

Der Hüne beugte sich in den Wagen und löste Zoes Gurt. Anschließend hob er sie ohne Mühe vom Fahrersitz. Als er sie aus dem Fahrzeug holte, fiel ihr Kopf nach hinten und kollidierte mit einem Gegenstand, der sich wesentlich härter als ihr Schädel anfühlte.

Zoe spürte einen intensiven Schmerz und war überzeugt, dass ihr soeben die Schädeldecke gespalten worden war. Doch sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken oder auch nur Bedauern darüber zu empfinden, denn schon im nächsten Augenblick versanken der Angreifer, das Auto und alles andere um sie herum in tiefster Finsternis, die am Ende wie ein unersättliches Ungeheuer auch noch sie selbst verschluckte.

1

Auf die weiß lackierte Wohnungstür hatte jemand, der künstlerisch nur mittelmäßig begabt war, mit sämtlichen Farben, die ein gewöhnlicher Farbkasten hergab, die Vornamen der drei Bewohnerinnen gepinselt: Antonia, Katharina und Zoe. Auf dem Klingelschild neben der Tür standen hingegen die dazugehörigen Nachnamen: Bergmann, Richter und Wallner. Es sah aus wie der Name einer renommierten Anwaltskanzlei; in Wahrheit handelte es sich um drei Studentinnen. Aus der Akte der vermissten jungen Frau wusste sie, welcher Vorname zu welchem Nachnamen gehörte und setzte sie wie ein Puzzle zusammen: Zoe Bergmann, Antonia Wallner und Katharina Richter.

Sie drückte auf die Klingel und wartete. Rasche Schritte näherten sich der Tür und verstummten unmittelbar dahinter; dann wurde sie geöffnet.

»Hallo, ich bin Anja Spangenberg. Wir haben miteinander telefoniert.«

Die junge Frau, die der Kriminalhauptkommissarin von der Vermisstenstelle der Kripo München die Tür geöffnet hatte, war etwas mollig und geradezu winzig. Anja schätzte ihre Größe auf höchstens eins zweiundfünfzig und überragte sie damit um ganze zwanzig Zentimeter. Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein, hatte kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar und strahlend blaue Augen. Neben einer schlabbrigen grauen Jogginghose, die ihr ein paar Nummern zu groß war, trug sie ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin nicht klein, ich bin nur auf das Beste reduziert«. Sie hatte ein Tattoo am rechten Oberarm, von dem Anja allerdings nur einen Teil sah, und ein Piercing im linken Nasenloch.

Die junge Frau kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorn, als sie gewissenhaft den Dienstausweis studierte, den Anja ihr entgegenhielt. Vielleicht benötigte sie eine Brille, war aber zu eitel, eine zu tragen. Sie schien zufrieden mit dem zu sein, was sie auf dem Ausweis gesehen hatte, denn schließlich nickte sie und erwiderte Anjas Blick. Dann streckte sie dieser ihre kleine, zierliche Hand entgegen und sagte mit einem Lächeln: »Wir haben sie bereits erwartet. Mein Name ist Antonia Wallner. Es war meine Mitbewohnerin Kati, mit der sie am Telefon geredet haben.« Sie sprach mit niederbayerischem Dialekt und hatte eine hohe Stimme, die einem vermutlich auf die Nerven ging, wenn man ihr länger zuhören musste.

Aus der Vermisstenakte, die sie sich unter den linken Arm geklemmt hatte, kannte Anja zwar die Namen der beiden Frauen, mit denen Zoe Bergmann, die seit vorgestern vermisst wurde, in dieser Studenten-WG in der Balanstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen zusammenlebte. Ansonsten wusste sie jedoch nicht viel über die Studentinnen.

Nachdem sie einen kurzen Händedruck ausgetauscht hatten, trat Antonia zur Seite und gab den Weg frei. »Kommen Sie schnell rein«, sagte sie und warf an Anja vorbei einen Blick auf die Eingangstür der gegenüberliegenden Wohnung. »Herr Lamprecht von gegenüber klebt bestimmt schon wieder an seiner Wohnungstür, ein Auge am Spion und ein Ohr gegen die Tür gepresst. Anatomisch ist das zwar unmöglich, der Mann schafft es aber trotzdem irgendwie. Er ist Rentner, hat viel zu viel Zeit und ist darüber hinaus furchtbar neugierig. Außerdem verdächtigt er uns, wir würden hier ein illegales Bordell betreiben und Unmengen von Drogen konsumieren. Wenn er mitkriegt, dass Sie von der Polizei sind, fühlt er sich in seinen Vermutungen nur bestätigt und schreibt mal wieder einen seitenlangen Brief an die Hausverwaltung, die Polizei und den Bundespräsidenten.«

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