Noch immer stand ich unter der riesigen Linde und schaute verwirrt, als Winzling diesem Riesen in die Krone. Kopfschüttelnd breitete ich meine Decke aus und ließ mich darauf nieder, denn ich fühlte mich seltsam, dabei angenehm müde. Ich holte meine Wegzehrung, den Zeichenblock und die Bleistifte aus dem Rucksack. Die Äpfel lachten mich an, ich entschied mich jedoch, zuerst auf Papier zu bringen, was ich sah. Als ich das Deckblatt meines Blockes öffnete, stieg der Ärger wieder in mir auf. Bloß weil ich nun keine Arbeit mehr hatte, konnte ich die Verwirklichung meines Traumes vergessen. Trotzdem konnte ich den Gedanken, mir die Truhe bauen zu lassen, die ich einem inneren Bild zur Folge aufgezeichnet hatte, nicht ohne weiteres abschieben. Ursprünglich wollte ich ja einen Schauplatz für meine neue Geschichte zeichnen, da sah ich die Truhe vor meinem geistigen Auge stehen. Keltische Laufmuster zierten sie, und selbstredend hatte sie ein Geheimfach. Der Wunsch, sie in meiner kleinen Wohnung stehen zu haben, war übermächtig. Ich sollte schnellstens wieder einen Verlag finden, der sich für mittelalterliche Comics begeisterte und ich mußte gleich morgen bei der Burgschreinerei anrufen, denn meine Rohzeichnungen mit der Bestellung würden sicherlich inzwischen dort angekommen sein. Diese Angelegenheit hatte zu warten, dafür hatte ich im Augenblick wirklich kein Geld übrig.
Entschlossen, meinen Grübeleien ein Ende zu setzen, blätterte ich weiter bis zum nächsten leeren Blatt. Wenn es mir gelang, dieses unglaubliche Bild mit der Linde auf der Lichtung einzufangen, konnte ich die Zeichnungen gegebenenfalls ausstellen und fand sogar einen Käufer. Meine Hand flog nur so über das Papier. Es war unheimlich, als führte sie ein anderer, so schnell ging es.
Nachdem ich die letzte Zeichnung beendet hatte, verstaute ich den Zeichenblock und die Stifte wieder in meinem Rucksack. Nun konnte ich in Ruhe essen. Genüßlich biß ich in eine Scheibe Brot, während ich einen gold schimmernden Käfer beobachtete, der sich auf meine Decke verlaufen hatte. Auf der anderen Seite lief eine Kreuzspinne, die im Eilschritt versuchte, von den fusseligen Fasern der Decke herunterzuflüchten. Der Wind rauschte sacht in den Lindenblättern über mir. Mir wurden die Lider schwer.
Die Naturgeräusche, das Brummen und Surren der Käfer und Bienen, der Vogelgesang, die Lerche hoch oben, das Rauschen des lauwarmen Windes in den Blättern, das Zirpen der Grillen und die heißen Sonnenstrahlen ließen mich zufrieden und schläfrig, die Augenlider schließen. Ich fühlte ein Lächeln auf meinen Lippen, als ich mich auf den Rücken legte. Während ich die Arme unter meinem Nacken kreuzte, spürte ich wie sich mein Haarknoten löste und die Haare sich fließend auf der Decke ausrollten. Ich öffnete die Augenlider wieder und schaute in den Lindenbaum. Es fiel mir jedoch immer schwerer sie geöffnet zu halten, obwohl in meinem Kopf die Gedanken tobten.
Das mittelalterliche Lied Unter den Linden von Walter von der Vogelweide, kam mir in den Sinn. Leise summte ich es vor mich hin und verdrängte dadurch, für einen Augenblick, das seltsam lockende Summen der Lichtung und der Linde. Doch immer mehr driftete mein Geist ins Land der Träume ab, es war so unendlich schwer, sich zu sammeln. Die Geräusche verschwammen immer mehr, wurden leiser. Das Lied, das mich rief, wurde stärker, drängender. Ab und zu blinzelte die Sonne durch eine Lücke der Lindenblätter und der Sommer erfüllte die Luft. Das Sonnenlicht drang durch meine geschlossenen Augenlider. Ich hörte erneut meinen Namen, leise und eindringlich, keinen Widerspruch duldend. Dann ließ ich mich fallen. Ich hörte auf, dagegen anzukämpfen. Ich folgte dem Ruf und schlief ein.
Augenblicklich träumte ich: Mein Geist wanderte zur Linde, durch den Stamm hindurch arbeitete ich mich bis zum Kern des Lindenbaumes vor. Ich sah die Jahre des Baumes an mir vorbeiziehen, als blickte ich entgegen der Fahrtrichtung aus einem Zugabteil. Am Ende befand ich mich mitten in der Linde und verschmolz mit der Seele des Baumes. Ich konnte wie die Linde fühlen. Empfand Liebe zu allen Wesen. Ich wußte, die Linde hatte mich gerufen, wußte für Augenblicke alles, ...ehe die Ewigkeit mich umfing.
3 Auf Burg Sommerstein, 2003
Die Nacht war pechschwarz. Das Herz pochte wild in seiner Brust, er hörte jeden Schlag laut in seinen Ohren dröhnen. Als er die Augen öffnete, brauchte er erst eine Weile um sich zurechtzufinden. Beim zweiten Anlauf fand er den Schalter der Lampe. Der Raum wurde augenblicklich in ein angenehmes mildes Licht getaucht. Liam atmete laut aus. Er war klatschnaß geschwitzt. Diese Träume hatten es in sich. Sein Blick wanderte zu der alten keltischen Truhe, die neben seinem Bett an der Wand stand. Er schnitt ihr eine Grimasse. Hatte sein Bruder Brian recht? War sie am Ende tatsächlich Schuld an seinen eigenartigen Träumen und Erscheinungen? Er erinnerte sich überdeutlich an den Augenblick, als ihm das Fuhrunternehmen die Truhe vor die Tür stellte. Einen Absender gab es nicht, und der Empfänger war eindeutig er. Seine Familie und er standen vor einem Rätsel. Drei Tage nach dem Eintreffen der verschlossenen Truhe, kam dieser Brief aus England. Er enthielt den Schlüssel für die Truhe und lediglich einen schlecht lesbaren Satz auf einem kleinen, sehr alten Pergament:
„Da es nun an der Zeit ist, sende ich Dir Deine Truhe samt Inhalt! Ich wünsche Euch alles Glück, in tiefer Verbundenheit Euer ...“
Wer auch immer, Euer... war, und wen auch immer er mit Euer meinte, niemand konnte die Zeichen lesen, mit denen der Schrieb unterzeichnet war. Eine genauere Erklärung fehlte. Niemand hatte je von ihm gehört. Vermutlich hatte dieser Mensch sich doch getäuscht, und die Truhe war für einen anderen bestimmt? Sie waren alle verwundert, noch dazu, weil er der Empfänger war und nicht sein Vater oder Großvater, was die gerechte Erbfolge gewesen wäre, sofern es sich um einen Verwandten aus Schottland handelte.
Nachdem er mit zittrigen Fingern die Truhe geöffnet hatte, starrten sie alle in die gähnende Leere, die sie enthielt. Von dem angekündigten Inhalt fehlte jede Spur. Hatte er oder sie vergessen ihn hineinzulegen?
Versonnen hatte er auf das innere Holz des Deckels geblickt, plötzlich sah er darin das Gesicht einer Frau. Entsetzt war er einen Schritt zurückgesprungen. Sogar seine Nackenhaare hatten sich gesträubt, trotzdem konnte er die Augen nicht abwenden. Sogar jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Ja, er bekam erneut eine Gänsehaut, wenn er an das Gesicht dachte, daß ihn wie aus einem Spiegel entgegenblickte. Er war jedoch der Einzige, der sie gesehen hatte.
Von diesem Tag an häuften sich die Erscheinungen und die Träume. Alles glich sich. Immer schien die Frau verwirrt, auf der Suche. Sie flehte ihn ohne Worte um Hilfe an. Abgesehen davon, daß ihn das Gefühl, ihr nicht helfen zu können, berührte, ging ihm der Zauber auf die Nerven. Er brauchte seinen Schlaf, gerade jetzt.
Manchmal fragte er sich, wie sie hatten so dumm sein können, aus Schottland fortzuziehen und eine Burg in Deutschland zu kaufen? Nur, um darin mittelalterliche Märkte und Turniere zu veranstalten?! Klar, es war die Gelegenheit gewesen, trotz Schuldenberg. Und ein Zurück gab es vorerst nicht. Morgen würden sie mit ihrem ersten Fest und Turnier ins kalte Wasser springen müssen. Es stand in den Sternen, ob es so gut ankäme, wie sie es sich erhofften. Womöglich waren die Menschen schon übersättigt vom Mittelalterkram! Nun, wenn es so war, mußten sie die Schulden eben mit ihrer eigentlichen Arbeit begleichen, auch wenn das bedeutete, daß er sein Leben lang schreinern mußte. Es lag wohl an den Vorfahren, die ihre Bedürfnisse durch sie stillten. Weshalb sein Vater allerdings von Schottland ausgerechnet hierhergezogen war, würde ihm Zeit seines Lebens ein Rätsel bleiben.
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