Ihre Worte waren dann wohl doch etwas zu hart gewählt, vielleicht auch zu unbeholfen, und sie waren damit auch gewiss von einem »Sündenerlass« weit entfernt.
Elektra hob den Blick und sah Silvana lange in die Augen, schließlich zuckte sie die Achseln, und sie sagte: »Ich weiß, das alles klingt sehr merkwürdig. Aber ja, ich wollte und will mich bei ihm nur entschuldigen. Ich möchte nach allem, was ich hier verursacht habe, nicht erneut einfach so verschwinden … nach Zürich. Dort lebe ich jetzt.
Ich möchte wiederkommen dürfen, ohne mich dann schämen zu müssen. Ich möchte auch keine mit Schuld bepackten Albträume bekommen, wie damals, die dann wieder nur zögerlich verschwinden. All das möchte ich nicht noch einmal erleben, schlimmer noch … nicht noch einmal durchleben .
Ich weiß, das klingt jetzt bestimmt wieder furchtbar theatralisch, aber so fühle ich mich.
Vielleicht wäre ein Gespräch mit Raymond vor Stunden noch anders verlaufen, nein, sicher wäre es das. Aber das ist vorbei.«
Ein kleinmütiges Lächeln huschte Elektra über das Gesicht, während sie erneut die Achseln zuckte.
»Und außerdem …«, fuhr sie fort, griff in ihre Handtasche und zog ein paar Papiere hervor.
Ein Klingelton, den Silvana bestimmt schon zwei-, drei- oder gar viermal vernommen hatte, lenkte sie kurz ab. Denn dieses Klingeln – es war der Klingelton eines Smartphones – kam aus Elektras Handtasche. Elektra, die es bestimmt auch hörte, schien es nicht zu stören.
»Hier«, sagte sie nur und schloss rasch ihre Tasche. »Das sind die Urkunden für die zwei Obstbaumwiesen. Die Wiesen gehören jetzt Raymond. Die Urkunden wollte ich ihm morgen geben. Oder irgendwann per Post schicken. Aber vielleicht, wenn du mir diesen Gefallen erweisen würdest …?
Ich bin mir ziemlich sicher, Raymond hat kein großes Interesse, mich noch einmal zu sehen. Ich könnte es ihm nicht einmal verübeln.
Doch er soll wissen, dass mir alles sehr, sehr leidtut. Wenn du ihm das ausrichten würdest. Und er möge mir all das, was ich hier und … egal … was ich verursacht habe, nicht mehr nachtragen. Würdest du das für mich tun?«
Ja, natürlich würde Silvana das. Keine Sekunde musste sie darüber nachdenken. Auch war sie sich ziemlich sicher, dass das wohl im Moment der richtige Weg sein würde.
Und das erste Mal konnte Silvana verstehen, dass Raymond dieser Frau einmal sehr nahegestanden hatte. Diese Seite an ihr, diese erschöpfende Empathie, die sie jetzt zeigte, war wahrlich liebenswert.
»Und noch etwas, wenn ich schon dabei bin. Ich möchte mich auch bei dir endlich in aller Form entschuldigen. Für alles. Für meine Frechheiten, für all die Beschimpfungen und besonders für das Chaos, das man vor Wochen in deiner Wohnung verursacht hat. Ich … All das tut mir heute schrecklich leid.«
Silvana nickte nur. Dieser merkwürdige Vorfall hatte sie damals schon nicht sonderlich in Panik versetzt, auch hatte sie jetzt nur noch das Entsetzen ihrer Mutter vor Augen, die damals ihren Trost nötiger als sie selbst gehabt hatte. Alles andere war längst vergessen.
Sie wollte kein Wort mehr darüber verlieren, etwas anderes war jetzt viel wichtiger: »Sag, was hast du nun vor, bis deine Bella zurück ist?« Vielleicht war ein Blick nach vorn der beste, der einzig wirkliche »Rat«, den Silvana Elektra jetzt geben konnte.
»Nichts!«, antwortete Elektra, ohne lange zu überlegen, zuckte dabei die Achseln und ließ ihren Blick stumm auf den Tisch fallen.
Nichts? Nur ein Wort! Silvana wollte es kaum glauben. Was für ein vernichtendes Urteil über sich selbst.
»Was hast du denn in den letzten Tagen gemacht, seit Bella weg ist?«
»Auch nichts. Gewartet.«
Silvana schüttelte innerlich den Kopf. Mit so viel … ja, was war es? Angst? Selbstmitleid? Selbstverachtung? Lebensverneinung? … hatte sie nicht gerechnet.
Vor ihr saß eine wunderschöne Frau, intelligent, eloquent, die die Blicke nur so auf sich zog, die zudem wohl auch noch unsagbar reich war, die aber dennoch scheinbar mit ihrem Leben nichts anfangen konnte? Sicherlich, sie hatte viel Entsetzliches erlebt, aber auch viel Schönes. Dennoch schien das Entsetzliche, das Albtraumhafte sie zu bestimmen.
Wie traurig, bedrückend und düster das doch war.
Und plötzlich kam Silvana ein anderer Gedanke: War sie, war Elektra am Ende einer dieser Schatten, der auf sie wartete?
Konnte das sein?
Einen kurzen Moment sah sie sie etwas genauer an. Nein, sie konnte keinen Schatten entdecken.
O mein Gott, wie töricht sie doch manchmal war, etwas sehen zu wollen, was sie längst schon wahrgenommen hätte.
Und sie lächelte abfällig. Über sich. Über ihre Naivität.
»Was ist? Was hast du?«, fragte Elektra unsicher, mit einem nach Hilfe suchenden Blick, der versuchte, dieses Lächeln zu verstehen.
»Nichts weiter«, sagte Silvana nur, denn etwas anderes ging ihr plötzlich durch den Kopf, etwas, das vielleicht tatsächlich eine Hilfe sein könnte, und sie fuhr fort: »Was würdest du tun, wenn deine Bella jetzt hier wäre?«
Sekundenschnell veränderte sich Elektras Miene. Sie strahlte plötzlich.
»Ich … Wir … wir würden unser Leben genießen. In unserem gemeinsamen Zuhause. Und wir würden umherfliegen. Mal hierhin, mal dorthin. Wir würden uns Städte ansehen. Immer für ein, zwei Tage. Und anfangen würden wir mit Istanbul. Dort soll es wunderschön sein, hat man mir erzählt. Istanbul, die Stadt am Bosporus, an der Trennlinie vom Orient zum Okzident«, sprudelte es aus ihr heraus. Und mit verklärtem Blick ergänzte sie: »Ja, das würde ich, das würden wir tun. Zusammen.«
Was für eine Antwort. Was für Träume, so einfach, so schnell erfüllbar, zumindest für die Frau hier vor ihr. Warum also … wartete sie nur?
»Und warum machst du das nicht dann schon einmal … allein?«
»Allein? Wozu?«
»Für dich.«
»Allein. Für mich? Das ist Unsinn. Nein, das wäre kein … kein Vergnügen. Das geht auch gar nicht. Auch würde mich zu viel an mein früheres ›Umherirren‹ erinnern.«
Ja, damit hatte sie wohl recht. »Dann mach es nicht allein. Gibt es denn sonst niemanden in deiner Umgebung, der dich …?«
»Nein. Doch. Natürlich …«
Silvana schrak zurück, vor ihrer Frage, die ihr plötzlich einen haarsträubenden Gedanken mitten in den Kopf setzte. Bitte, sag jetzt nicht, dass ich das bin.
»Da gibt es zwei Hausmädchen, meinen Fahrer und dann noch Maria, meine …« Elektra lächelte verschmitzt. »… meine mütterliche Privatsekretärin.
Wenn sie das jetzt gehört hätte, hätte sie sicherlich wieder schweigsam und verschämt den Blick fallen gelassen.
Sie liebt mich. Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin die Tochter, die sie nie bekommen hat. Und hörst du …?« Wieder war dieses Klingeln aus ihrer Tasche vernehmbar. »Das ist sie. Wir sind … na ja, ich war nicht sehr freundlich zu ihr gewesen. Beleidigt hatte sie sich zurückgezogen. Ich bin dann augenblicklich verschwunden. Das war Donnerstag. Und jetzt macht sie sich Sorgen. Sie hat seitdem bestimmt schon mehr als zwanzigmal versucht, mich zu erreichen.«
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