Desiths Herz raste ruhelos, panisch. Er brüllte aus Leibeskräften. »Rick!« Er wütete, spürte den Zorn, der ihm die Brust hinaufkroch und sauer schmeckte. »Rick! Lass uns zurückgehen! Warum bleibst du nicht stehen? Rick! Es ist sinnlos, wir müssen zurück! Hörst du mich? Bleib stehen, verdammt noch mal, du hohlköpfiger Bastard eines Dämons! Bleib verdammt noch mal stehen! Rick! He, Rick! Ich will heim, ich will nur … heim!« Mit jedem Wort verrauchte seine Wut und wurde zu Enttäuschung, zu Erschöpfung und schlicht zu Angst, weil Rick nicht stehen blieb, sich nicht einmal nach ihm umsah.
Desith wurde langsamer. Er wollte es nicht, aber der Traum bremste ihn, als ob ihn seine Ausdauer allmählich verlassen hätte, wie nach einem langen Lauf. Doch das spürte er im Traum nicht, er konnte gar nichts fühlen, bis auf die Empfindungen seines Herzens.
»Rick!« Er wurde panisch, je weiter Rick sich entfernte. Kopfgroße Blätter versperrten ihm immer wieder den Weg, wütend schlug er sie zur Seite, Derrick versank immer weiter im Zwielicht, bis ihn die Schatten gänzlich aufgesogen hatten.
Desith rannte los, auch wenn er bereits wusste, dass es sinnlos war. »Rick!« Er eilte diesem nach, konnte ihn aber nicht mehr finden. War er ihm überhaupt noch auf den Fersen? Desith wusste es nicht und irrte bald nur noch ziellos umher, drehte sich um sich selbst, eingeschlossen vom dunklen, dichten Dschungel, beobachtet von hungrigen Augen aus dem Unterholz.
Die Furcht ließ ihn blind davonrennen, doch er konnte dem Gefühl der Gefahr nicht entrinnen. Derrick war fort, und er war plötzlich im großen, unheimlichen Dschungel ganz allein, auf sich gestellt. Zwischen riesigen Raubtieren, giftigen Pflanzen und tödlichen Insekten. Ihm war, als ob hinter jedem Baumstamm der Tod lauerte.
Er war allein.
Und dann hörte er es. Das Grollen in der Dunkelheit, das Knacken und das Rascheln des Dschungels. Der Drache. Erschrocken fuhr er herum, starrte auf eine plötzlich schwarze Wand, und taumelte zurück. Nebel trat stoßweiße ins Zwielicht. Nein, kein Nebel, sondern Atem. Nach Schwefel stinkender Atem. Das Grollen wurde lauter, Desith erblickte die gewaltigen Nüstern des Drachen, der sich aus der Schwärze schob.
Er wartete nicht auf den Rest des Monsters, warf sich herum und rannte davon, sprang wie ein junges Reh durchs Unterholz, verfolgt von einem wütenden Brüllen und dem Geräusch eines gewaltigen Flügelschlags.
Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel, und er stolperte vorwärts. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit den Händen voran abfangen, sie versanken in tiefem Matsch, unter ihm schimmerte eine dunkle Pfütze im Zwielicht. Doch er bemerkte, dass sie nicht sein Gesicht widerspiegelte. Sie zeigte gar nichts, auch als er sich tiefer hinab beugte. Er hatte kein Spiegelbild, als wäre er nur ein Geist.
Der Drache flog über ihn hinweg, brüllte, schien ihn nicht zu sehen. Aber das Unterholz um ihn herum knackte erneut, leise, es kam von überall und kreiste ihn ein. Er wankte auf die Füße und sah mit klopfendem Herzen zu, wie Gestalten in dunklen Umhängen und mit ausgestreckten Armen auf ihn zu kamen…
*~*~*
Vynsu schlug die Augen auf. Im ersten Moment wusste er nicht, was ihn geweckt hatte, aber seine Instinkte waren in Alarmbereitschaft. Wie ein Bär, der von dem Knacken eines Zweiges geweckt wurde. Er lauschte einen Moment, jedoch war es im Lager bei Nacht beinahe grabesstill, selbst vor dem Zelt schien sich nichts zu rühren, er konnte seinen eigenen Atem hören und das Zischen der Glut in den Feuerschalen. Da war sonst nichts.
Brummend bewegte er sich auf seinem Stuhl ein wenig hin und her, versuchte genervt, eine bequemere Position zu finden, aber durch die Nächte, die er bereits auf dem Holzstuhl an Desiths Seite verbracht hatte, taten ihm jegliche Gelenke und Knochen weh. Natürlich hätte er auch einen Barbaren abstellen können, der Desiths Bewacher spielte, aber sowohl er als auch seine Mutter und Jori hielten es für klüger, dass er sich selbst darum kümmerte. Er nahm diese Pflicht – auch wenn er sie nur aufgelastet bekommen hatte, um aus dem Weg zu sein – sehr ernst. Vermutlich hätte Vynsu ohnehin kein Auge zugetan, wenn er Desiths Schutz einem anderen Krieger anvertraut hätte. Außerdem tat es Vynsu auch für Derrick, für seinen Bruder. Er wollte dessen Gefährten beschützen, denn er wusste, Derrick hätte ihm den gleichen Gefallen erwiesen.
Vynsu verschränkte wieder die Arme vor der Brust, als es weiterhin still blieb, und rutschte tiefer an der Stuhllehne hinab, dann schloss er die Augen und schmatzte. Solange er hier saß, würde niemand an ihm vorbeikommen, weder ein Eindringling noch Desith. Keiner würde ein- noch ausgehen.
Plötzlich fiel ihm etwas auf. Wobei, eigentlich war es mehr das Aufflammen eines unguten Gefühls. Normalerweise schreckte er auf, wenn er spürte, dass sich außer ihm noch jemand im Raum befand, doch dieses Mal war es mehr das Gefühl, dass etwas fehlte…
Erschrocken richtete sich Vynsu auf und fuhr zum Bett herum. Desiths Lager war leer, kein Körper befand sich mehr darin. Das hatte ihn aufgeweckt! Kein Geräusch, kein Eindringling, sondern das Fehlen von etwas, das er bewachen sollte.
Fluchend stand er auf, ging um das Bett herum, als würde Desith wie durch ein Wunder wiederauftauchen, dabei rasselte sein Gürtel und seine Schwertscheide. Desith blieb natürlich spurlos verschwunden.
Er war ja so ein Hohlkopf! Warum hatte er nicht mitbekommen, dass Desith aufgestanden war?
Und wie konnte das überhaupt sein? Nach dem Trank, den Vynsus Mutter Desith verabreicht hatte, hätte dieser mindestens bis zum nächsten Abend durchschlafen müssen. Sie hatte es ihm versichert!
Zornig über sich selbst, seine Unfähigkeit verfluchend, stakste er durch das Zeltinnere auf den Ausgang zu und schlug die Plane zurück. Zwei Leibwächter waren davor positioniert, sie zuckten ebenso erschrocken zusammen wie er. Vynsu hatte von den weiteren Bewachern nichts gewusst.
Er sah die beiden Krieger nacheinander prüfend an, sie waren erfahrene Männer, aber noch nicht alt, etwa zehn oder fünfzehn Jahre älter als er, einer blond, einer braunhaarig, beide bärtig. Vermutlich Brüder, sie sahen sich ähnlich, aber er kannte ihre Namen nicht, obwohl er sich sicher war, dass er sie schon oft gesehen hatte.
»Prinz?«, fragte der Dunkelhaarige irritiert, als Vynsu sie nur grimmig anstarrte.
Er riss sich zusammen und schüttelte den Kopf. »Verzeiht, ich dachte, ich hätte etwas Ungewöhnliches gehört.«
Ein Nackenkitzeln hielt ihn irgendwie davon ab, die Wahrheit zu sagen. Er wollte das Lager nicht aufschrecken. Vielleicht wollte er aber auch nicht seine Schuld eingestehen, immerhin war ihm allein Desith entwicht. Ihm allein.
»Nein«, erwiderten sie unisono und tauschten miteinander verwunderte Blicke. »Alles still hier draußen«, versicherte der Blonde.
Grübelnd starrte Vynsu ihm in das markante Gesicht. »Niemand ging ein oder aus?«
Sie sahen sich an, als überlegten sie, ob sie es sich erlauben konnten, ihn zu fragen, ob er seinen verdammten Verstand verloren hätte.
»Niemand«, versicherte der Dunkelhaarige schließlich, sie hatten wohl beschlossen, Vynsu erst noch weiter zu beobachten, bevor sie sich ein Urteil über dessen geistigen Zustand erlaubten.
Er schnaubte und drehte sich bereits wieder um, als er noch ein letztes Mal innehielt. »Und ihr habt auch nicht geschlafen? Für keinen noch so winzigen Augenblick?«
»Nein«, versicherten sie ihm. »Eure Mutter stellte uns hier ab, als sie zu Bett ging, da haben wir Euch noch herumlaufen gehört. Niemand kam hier vorbei, Herr, die …« Der Blonde trat unbehaglich von einem auf den anderen Fuß. »Die Leute meiden das Zelt.«
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