Kaum, dass wir ihn betreten, verliebe ich mich schon in ihn, diesen großen, weiten Platz, der von hier aus gesehen der erste im historischen Zentrum ist, dem historischen Zentrum dieser Stadt in der Toskana, welches man erst im vergangenen Jahr zum Weltkulturerbe erklärt hat. Beinahe still liegt er da, dieser unbebaute Ort mit seinen noch unbesetzte Bänken zwischen den liebevoll angelegten, kleinen Beeten in seiner Mitte und beinahe auch noch menschenleer ist er zu dieser frühen Stunde, sieht man von den wenigen, die zügig über ihn hinweg streben, unbeirrt, als wären sie auf dem Weg zur Arbeit, einmal ab. „Siehst du?“, blickt Olaf seine Freundin an, die noch immer an seinem Arm hängt. „Das ist die Kirche des Klosters!“ Schön, davor einmal Platz zu nehmen und sich die imposante Fassade genau anzusehen, finde ich, mit Blick auf die rechteckigen Fensterrahmen, die aus schwarzem und weißem Marmor nachgestellt worden sind und die oben in runden Bögen auslaufen. Schwarz und weiß reihen sich auch darum herum die vielen Marmorplatten aneinander. Nur um das Eingangsportal und an den Seiten an den Säulen wurde roter Marmor gewählt und oben, wo durch die Dachschrägen ein Dreieck entsteht hat man aus hellen Steinen eine Sonne eingelegt. Freundlich schaut ihr Gesicht zu uns hinunter, eingerahmt von ihren schlangenförmigen Strahlen. „Marmor“, kann Olaf seinem Reiseführer entnehmen, „wird in Carrara in der Toskana schon seit dem zweiten Jahrhundert vor Christi abgebaut.“
„Lass uns da doch mal nach einem Zimmer fragen“, schlägt Sina mit Blick auf das fünfstöckige Gebäude auf der anderen Seite vor, auf dessen Fassade „Hotele“ in großen Lettern geschrieben steht. An der Rezeption redet Olaf gleich auf Englisch los, obwohl er doch weiß, dass ich ein wenig Italienisch gelernt habe. Er habe nur noch zwei Doppelzimmer frei, erklärt uns der Hotelangestellte. Sechzig Mark, errechnen wir schnell, soll ein jedes kosten. Keine Wunder bei dieser exponierten Lag! Während Sina und Olaf ihr Namen und Adressen aufschreiben, beginne ich mich zu ärgern. Darüber, dass wir nicht wie verabredet alle auf einem Campingplatz schlafen werden, darüber, dass Olaf die Dinge in die Hand nimmt, ohne zu fragen, ob das für mich in Ordnung ist, aber vor allem auch darüber, dass ich die Kosten für eine Übernachtung immer alleine werde tragen müssen.
Der Domus Dei, auf den wir uns durch eine Gasse zubewegen, ist kaum auszumachen, so nah stehen die anstehenden Gebäude um ihn herum. „Die Kathedrale Santa Maria del Fiore, das Wahrzeichen der Stadt“, sagt Olaf, sagt sein Reiseführer. Sina und Olaf neben mir geben die perfekten Touristen ab. Ich aber beginne mich zu wundern. Wollen die beiden auf diese Weise wirklich für den Rest des Tages diese Stadt erkunden? Wollen sie tatsächlich nur von einer Sehenswürdigkeit zur anderen eilen, ohne einmal innezuhalten, das Leben in dieser Stadt ein wenig in sich aufzunehmen? Und warum haben sie mir vorgeschlagen, mit mir zusammen zu reisen, wo sie sich doch selbst schon genug zu sein scheinen, frage ich mich, als wir auf den scheinbar von allen Seiten mit weißen, roten, grünen und schwarzen Marmor verkleideten Prachtbau zugehen, und ich Olaf „mit einem Längsschiff von über hundertundfünfzig Metern Länge, das viertlängste Kirchenschiff Europas, dessen eigentliches Wunder seine Kuppel mit ihren fünfundvierzig Metern Durchmesser ist“ sagen höre. All das hat er schon einmal gelesen, wird mir klar, als er noch zu Hause war. Und er hat dabei, wie ich erkennen kann, das Wesentliche unterstrichen. Oder zumindest das, was er für das Wesentliche hält. Das, was er Sina zeigen, was er ihr unbedingt vorlesen will. Sogar die Route, auf der wir uns durch die Stadt bewegen sollen, hat er offensichtlich schon auf dem Stadtplan seines Reiseführers festgelegt, und in diesem Moment begreife ich, dass zwischen den Vorstellungen, die Sina und Olaf und ich vom Reisen haben, unendliche Welten liegen. "Ich denke, es ist besser, wenn ich ab jetzt alleine weitergehe", höre ich mich selbst da auch schon sagen, und muss mich einmal mehr wundern, denn Olaf und Sina stehen vor mir wie vor den Kopf geschlagen. „Wir hätten dich schon noch zum Campingplatz gebracht“, erklärt Olaf und „Willst du denn nicht in die Uffizien gehen?“, kann Sina mich nicht verstehen. „Vielleicht, Sina, vielleicht auch nicht. Jetzt aber möchte ich erst einmal diese Stadt sehen, herumgehen, einfach mal schauen, was kommt. Verstehst du das?“ Augenscheinlich aber versteht Sina es nicht. Wir konnten wohl auch beide nicht ahnen, dass wir so verschieden sind. „Und wenn wir uns später noch mal treffen?“, scheint Olaf sich auch ein bisschen für mich verantwortlich zu fühlen und mit Blick in sein gutmütiges Gesicht, seine ernsthaft besorgten Augen, ergebe ich mich. „OK. Heute Abend um sechs am Bahnhof!“, fällt mir nichts Besseres ein und ich spüre, wie sehr ich mir wünsche, die beiden mögen jetzt zufrieden sein. „Bei der Gepäckausgabe?“, versucht er wohl meinen Gedanken zu folgen. „Genau“, bestätige ich den beiden, „Und dann können wir ja vielleicht auch noch etwas zusammen machen“, klammert Sina sich noch fester an Olafs Arm. „Ja, mal schauen!“, hebe ich meine Hand zum Gruß und marschiere an Herrn Brunelleschi vorbei, der hier in Stein gemeißelt mit seinem Zirkel in der Hand auf seinem Hocker sitzt und auf die, wie ich nun von Olaf weiß, von ihm erdachte Kuppel blickt dort oben auf dem Dom.
Als ich weiter in Richtung Arno gehe, fühle ich mich plötzlich frei. Frei und unabhängig von jeglichen Plänen lasse ich mich durch die Gassen treiben, schaue mir die riesigen Skulpturen an, die auf einem großen Platz herumstehen, bestaune eine Kopie von Michelangelos David und beobachte die vielen Straßenkünstler, die hinter ihren kleinen Ausstellungstischchen und -regalen, die vor ihnen Sitzenden porträtieren und die Silhouette dieser schönen Stadt immer wieder aus den verschiedensten Perspektiven malen.
Auf einmal legt sich die Nacht über Florenz wie ein feines, dunkles Tuch und als hätten sie sich verabredet zum Einbruch der Dunkelheit, erscheinen plötzlich überall bunte Gestalten: Clowns, Zauberer, Straßenmusikanten. Schon haben sich die ersten Menschen im Halbkreis um sie formiert. Ein jeder möchte möglichst viel von dem, was ihm nun präsentiert wird, mit den Augen verfolgen können. Der eine jongliert, erst nur mit bunten Bällen, dann bringt er mit dem Fuß einen Kegel nach dem anderen in die fliegenden Bälle hinein. Der andere steht still, ganz still vor einer Wand. Hinter der dicken Schicht Farbe auf seinem Gesicht ist kaum mehr eine Mimik zu erkennen. Nur seine Augen bewegen sich, folgen den Menschen, die gehen. Bis diese Augen plötzlich ein Kind fixieren, es anstarren mit bösem Blick. Das Kind, ängstlich geworden ob der starrenden Augen, greift schnell nach Mutters Hand. Da löst sich die Gestalt plötzlich aus ihrer Starre und greift nach jemandem, der gerade erst an ihm vorbeigegangen ist. Einem, der sich darüber aufgeregt hat, dass der mit der Maske das Kind so erschreckt hat vielleicht. Von hinten angetippt, bleibt dieser so unverhofft Berührte erschrocken stehen, starrt nun seinerseits den maskierten Tipper an, während dieser ihm freundlich lächelnd die ausgestreckte Hand zum Drücken hinhält. Überall stehen sie nun, um die Leute zu amüsieren, stets den Hut, die Schachtel oder ähnliches neben sich, Behältnisse für ihren Lohn.
Auf einem kleinen Platz, der nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt sein kann, steht ein junger Mann mit halblangen, dunklen Haaren auf einem winzigen Platz. An einem bunten Gurt schräg über seinen Schultern hängt eine Gitarre vor seinen Bauch. Den Koffer, in dem er sein Instrument transportieren kann, hat er vor seine Füße gelegt, den Deckel nicht zugeklappt. Unentschlossen schaue ich auf die vier, fünf jungen Leute, die sich vor dem Koffer im Schneidersitz auf den Boden niedergelassen haben. Der Straßenmusikant unterhält sich so angeregt mit einem von ihnen, dass er vergessen zu haben scheint, wozu er das Instrument in seinen Händen hält. Ich bleibe kurz stehen, warte, aber da nichts passiert, lasse ich mich von der Menschenmenge weiterschieben. Erst als ich schon in der angrenzenden Gasse bin, höre ich doch noch den Klang der Seiten. Gezupfte Töne, die schon kaum mehr wahrnehmbar sind durch die Geräuschkulisse, die mich umgibt. Sanft ertönt nun auch die Stimme des Musikanten mit einem mir bekannt vorkommenden, französischen Lied, wie ein zarter Ruf, dass ich bleiben möge. Ein wenig schüchtern lächelt mich der junge Mann mit der sanften Stimme an, als ich mich vor ihn zu den anderen setze. Die aufgerollte Isomatte, in welche ich meinen Schlafsack gestopft habe, lege ich neben mich. Auch der Straßenmusiker scheint nicht hier zu wohnen, spekuliere ich beim Anblick des kleinen Rucksacks, der hinter ihm an der Hauswand lehnt. Die zwei Mädchen rechts neben mir singen leise mit. Drei Späthippies haben sich mit dem Rücken an die Hauswand an der Seite gelehnt, wippen mit ihren Füßen zum Rhythmus hin und her. Sie machen den Eindruck, als würden sie hier leben, als wäre das ihr Stammplatz hier, ihr Draußen-Zuhause.
Читать дальше