1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 „Das hat aber gedauert!“, grinst Jan ihnen schelmisch mit seinen großen, grünen Augen entgegen. „Wir warten hier schon über `ne Stunde!“ Er wirkt aber ganz zufrieden, findet Rainer und trommelt, kaum dass er neben ihm auf der Mauer sitzt, schon wieder mit den Handflächen auf seinen Knien und Schenkeln herum, tritt dazu mit den Füßen den Takt. „Das ist echt manisch bei dir, oder?“, funkeln Tinas große, haselnussbraune Augen ihn ein wenig genervt an. Gut, dass Tina das sagt, denkt Lena, und das in ihrer netten Art. Ihr selbst hängen die Stunden mit Bowie in der Ente noch nach. Rainer aber trommelt weiter, ganz unbeirrt.
„Habt ihr `nen guten Trip gehabt?“, erkundigt er sich bei Jan. Dieser schmale Kerl kann tatsächlich seine Stimme benutzen, ohne dass er beim Trommeln aus dem Takt kommt. Ganz unfassbar findet Lena das. „Bei uns ist alles ganz cool gelaufen, oder?“, strahlt Tinas rundliches Gesicht angetan über den bisherigen Verlauf ihrer Tour in das ebenfalls ein wenig rundliche Gesicht von Jan. „Jo!“, findet auch er. „Wann sind wir heute Morgen losgekommen?“, will Tina offensichtlich herausfinden, wie lange sie bis hierher gebraucht haben. „Gegen sieben“, meint Jan sich zu erinnern und versucht, sich seine dünnen, strohblonden Haare, die an seinen feuchten Wangen kleben, aus dem Gesicht zu streichen. „Na, acht war`s wohl schon!“, ist Lena der Meinung. „Und jetzt? Wie spät ist es jetzt?“ Sie alle, sie können nur spekulieren, denn keiner von ihnen hat eine Uhr mitgenommen. Zur Not kann man ja auch fragen, haben sie alle gelernt und auch dass sie ein recht gutes Gefühl dafür haben, wie viel Uhr es gerade so ist. „Gegen fünf schätz ich mal!“, sagt Rainers und „Denk ich auch mal so“ das von Lena, während sie die Pappschachtel mit den Eiern, die sie heute Morgen noch schnell hart gekocht hat, aus ihrem Rucksack kramt. Die Eier, sie sind warm. „Wir haben schon gefuttert“, erklärt Jan und hält ihr eine Brottüte hin. Belegte Brote sind darin. Auch die sind warm, wie der Belag aus Butter und Käse, der zwischen den Broten klebt.
„Bis Brindisi sind es aber sicher noch über tausend Kilometer“, überlegt Jan laut, nachdem er die Doppelseite, die er zu Hause aus seinem Schulatlanten gerissen hatte, aus seiner hinteren Hosentasche gezogen und sorgsam auf dem Gehweg entfaltet hat. Im Schneidersitz lässt er sich davor nieder. „Zwei Tage noch und wir sind da, Leute!“, ist er gewiss. „Also trampen wir heute noch weiter?“ Das war zwar so abgemacht, aber Tina fragt eben immer lieber noch einmal nach. „Angebracht, wenn wir irgendwann mal ankommen wollen“, findet Rainer in seiner ihm eigenen, trockenen Art. „OK, Leute! Mal sehen, wo wir uns das nächste Mal treffen können!“, lässt Jan die Kuppe seines Zeigefingers durch Österreich und Norditalien wandern. Irgendwo an der Adria hält er an. Tina, Lena und Rainer beobachten aufmerksam, wie ihr Freund seinen Zeigefinger auf diesen Ort dort am Meer drückt, der Daumen derselben Hand auf München hinuntergeht und er dann versucht die so entstandene Distanz zwischen den beiden Fingern in der Luft festzuhalten, während er die Hand um den Daumen herum in Richtung Hamburg dreht. „Das ist in etwa die Strecke, die wir heute auch zurückgelegt haben“, erklärt er schließlich triumphierend das, was den anderen auch so klar geworden ist. „Hm“, hat Tina beim Anblick des Punktes an der italienischen Adriaküste, auf dem Jans Fingerspitze nun wieder liegt, aber Bedenken. „Vielleicht etwas groß, oder?“ - „Also Leute!“, kommt Rainer noch ein anderer Gedanke. „Vielleicht sollten wir erst mal klären, wo wir uns genau treffen wollen. Also, ich meine nicht den Ort, sondern wo da im Ort. Dann lässt sich der Ort vielleicht auch leichter bestimmen.“ - „Also das wo im wo“, fasst Jan ganz ernst Rainers Aussage zusammen, ohne seinen Zeigefinger von der italienischen Adriaküste wegzunehmen. „Ja, irgendwas, was es in jeder Stadt gibt“, findet der Trommler unter ihnen. „Ok, aber eben auch in einer kleinen!“ will Tina auf der Suche nach dem Treffpunkt nicht endlos durch irgendwelche italienischen Straßen irren. „Rathaus“, nuschelt Rainer neben ihr, den Rest des hart gekochten Eies noch im Mund. „Na klar! `N Rathaus gibt´s immer, oder?“, ist sie begeistert und tippt mit ihrem Zeigefinger auf einen Ort an der Küste gleich neben Jans Finger, welchen sie dabei leicht berührt. „Was ist denn hiermit?“ Skeptisch beäugt Jan das, was an dem langen Finger neben dem seinen geschrieben steht. „Kann ja kein Schwein aussprechen, das Ding!“, lächeln seine grünen Augen die Besitzerin des schmalen Fingers neben dem seinen dann liebevoll an. „Aber es ist nicht so viel weiter und scheint erheblich kleiner zu sein.“ findet die. „Na, hier auf der Atlasseite jedenfalls!“, schmunzelt Rainer und seine Hände, die auf seine Schenkel schlagen, wechseln den Takt. „Ach!“, bemerkt Jan. „Und außerdem ist das doch Latein!“ - „Latein? In Italien?“, grinst Rainer mit seinem breiten Mund die Mädels an, aber er erwartet keine Reaktion. Schon gar nicht von Jan. Alle kennen den Jungen mit den sanften, grünen Augen. Alle wissen, dass er immer wieder Bemerkungen macht, die vollkommen überflüssig sind, Dinge sagt, die sich jedem von selbst erschließen, die nicht noch einmal explizit benannt oder erklärt werden müssen. Aber alle drei wissen auch, dass es Jan seinen Freunden nicht übel nimmt, wenn sie sich über diese, seine Eigenart lustig machen. Da ist er großartig, hat Rainer schon oft gedacht. Als hätte Jan selbst Freude daran, mit dieser, seiner Marotte anderen Leuten ein Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern.
„Ne, echt jetzt!“, muss Jan noch mal auf die Sprache zurückkommen, nachdem er den Namen des Ortes dort an der Küste noch einmal studiert hat. „Nova vita! Das kann man sich doch merken!“ - „Da steht zwar noch ein bisschen mehr, aber .... ach!“, seufzt Tina, „Ich schreib` mir das jetzt einfach mal auf! Hat jemand `nen Stift, `nen Kugelschreiber?“ Jan hat, griffbereit, und ein sanftmütiges Lächeln geht über sein noch jungenhaftes Gesicht, als er ihn Tina reicht. „Ich find ja auch, dass wir mal tauschen!“, will Rainer eigentlich nur mal schauen, wie Lena auf diesen Vorschlag reagieren wird. „Was meinst du mit tauschen?“, schaut die ihn aber vollkommen unberührt an, da sie zunehmend das Gefühl hat, die Welt um sie herum würde sich von ihr entfernen. „Na, mal die Jungs zusammen und die Mädels“, versucht Rainer sich nicht anmerken zu lassen, was er eigentlich herausfinden will. „Also, falls ihr keine Angst habt, so ausgerechnet in Italien, zwei Frauen und so….“ Tina und Lena schauen sich an. Angst, so sagen ihre Augen, wovor sollen wir die haben? „Was soll denn schon passieren?“ hat Tina das sichere Gefühl, dass sie Lena genau so vertrauen kann wie Jan. „Na ja“, gibt Jan zu bedenken, „man hat ja schon so einiges gehört!“ - „Oh ne, bitte!“, stöhnt Lena, während sie sich auf die Mauer legt, „Jetzt nicht wieder diese leidige Diskussion über all das, was beim Trampen passieren kann! Das muss ich doch schon ständig mit meinen Eltern durchkauen. Das reicht mir echt!“ – „Und mir erst!“, hasst auch Tina dieses Thema. Aber sie möchte dem blonden Jungen mit dem sanften Gesicht auch nicht vor den Kopf stoßen. „Wir sind doch zu zweit!“, erklärt sie daher ruhig. „Und viel, was man uns wegnehmen kann, haben wir ja nun wirklich auch nicht dabei!“ Eure Körper, denk Jan, dem der Vorschlag seines Kumpels nicht sonderlich gefällt. Doch dann schweift sein Blick ungewollt an Tinas recht langen, unbekleideten Beinen entlang und er beschließt, besser nicht davon anzufangen.
Hauptsache nicht wieder eingeklemmt zwischen lauter Gepäck hinten sitzen, seufzt Lena in sich hinein und dreht langsam ihren Kopf zur Seite. Gekochtes Ei und belegtes Brot verlassen da plötzlich ihren Magen ohne jegliche Vorwarnung quasi unverdaut in Richtung Hecke. „Scheiße, Mann!“, schaut Rainer sie erschrocken an und lässt abrupt das Trommeln sein. „Was hast du denn für `nen Trip geschmissen!“ Sehr witzig, denkt Lena. Aber wenigstens hört er jetzt mit diesem ewigen Getrommel auf! Sie werden blau sein, war sie überzeugt, als sie Rainer kennen gelernt hatte, seine Schenkel von oben bis unten. Eines Nachts aber hatte sie dann in seinem Zimmer trotz fehlenden Stroms und damit elektronischer Beleuchtung festgestellt, dass Rainers Beine einfach nur weiß sind. So weiß, wie die der meisten Nordeuropäer. Die vielen Schläge, die sie täglich erleiden, hinterlassen keine Spuren an ihnen. „Ne, echt jetzt, Lena!“, versucht der Dauertrommler seiner Sorge ernsthaft Ausdruck zu verleihen. „Was ist los mit dir?“ Wenn Lena das wüsste! Heiß ist ihr. Und übel eben auch. „Mensch Lena, du hast `nen Sonnenstich!“, ist Tina sich absolut sicher, nachdem sie ihre flache Hand auf Lenas feuchte Stirn gelegt hat. Sie muss es wissen, finden die anderen, wo sie doch Krankenschwester wird. Träge hört Lena die Jungs diskutieren. Verschwommen Jan und Rainers Figuren, als sie durch das Gebüsch im bayerischen Land verschwinden, überzeugt davon, es müsse sich dort doch eine Apotheke finden, in der man etwas gegen so einen Stich bekommen kann.
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