»Nicht so hastig, liebe Esther«, bremste Jürgen Schnur Esthers Eifer. »Es gibt zwar eine markante Kratzspur auf beiden Geschossen, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kugel aus Zimmers Waffe stammt.«
»Also ist Steiner aus dem Rennen?«
»Nicht ganz. Es gibt weitere Riefen. Aber das Projektil war so verformt, dass es nicht exakt mit dem Projektil, das in der Ballistik abgefeuert wurde, verglichen werden konnte. Eine mikroskopische Untersuchung kann nur Ähnlichkeiten feststellen. Das zählt nicht als Beweis.«
»Enttäuscht?«
»Nur entsetzt! Zimmers Waffe ist vor fünfzehn Jahren spurlos verschwunden. Sollte sie jetzt wieder auftauchen, wirft das eine Menge neuer Fragen auf.«
»Die Tatsache, dass Bernd Schumacher im Besitz dieser Waffe war, zwingt uns die Frage auf, wie er daran gekommen ist«, überlegte Esther laut.
»Das Verschwinden von Zimmers Waffe war damals schon eine undurchsichtige Angelegenheit.«
»Das Verschwinden einer Waffe ist immer undurchsichtig«, bemerkte Esther. Aber Schnur ließ sich nicht ablenken, sondern sprach weiter: »Es handelt sich um eine Blaser R 93 Royal, mit einer handgefertigten Gravur. Zudem war der Schaft aus geschnitztem Nussbaumholz mit einer besonderen Maserung, was den Wert der Waffe erheblich steigert. Der Preis betrug damals schon vierzigtausend Mark.«
»Wer gibt so viel Geld für einen Repetierer aus?«
»Idealisten«, antwortete Schnur. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat Kullmann damals den Fall Eduard Zimmer bearbeitet. Ich komme nicht umhin, mit ihm darüber zu sprechen.« Schon griff er nach dem Telefon. Während er Kullmanns Nummer wählte, fügte er an: »Bis der Aktenführer die Akte herausgesucht hat, hat Kullmann mir alles erzählt.«
»Heißt das, wir fahren zurück nach Saarbrücken?«
Bevor Schnur seiner Mitarbeiterin antworteten konnte, sprach er in den Hörer.
»Nein, Kullmann kommt hierher« sagte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
»Warum nimmt er den weiten Weg auf sich?« Sie klang enttäuscht.
»Er lässt es sich nicht nehmen, nach all den Jahren den Limberg wieder zu sehen«, antwortete Schnur. »Aber mach dir keine Sorgen, wir fahren noch oft genug nach Saarbrücken. Forseti will über alles informiert werden. Er besteht darauf, dass ich persönlich antrete. Seinen Unmut über meine Einsatzzentrale vor Ort lässt er mich jetzt schon spüren.«
»Willkommen in Oberlimberg.« Wenn das mal keine freundliche Einladung war. In behäbigem Tempo steuerte Kullmann seinen Wagen über die schmale Straße.
»Hier hat sich einiges verändert«, murmelte er.
»Überrascht dich das?«, fragte Martha. »Das ist ein schöner Ort. Ein guter Grund, hier zu bauen.«
»Oskar Lafontaine hat das auch erkannt. Er wohnt hier.« Kullmann zeigte auf ein großes Anwesen zu seiner Rechten. Ein geöffnetes Eisentor mit spitzen Stahlstreben gewährte gute Sicht auf ein gelbes Haus, das mit flachem Walmdach über Erkern und Giebeln ganz typisch im Baustil der Toskana gehalten war. Hohe Fenster und eine Glasgalerie im Dachgeschoss ließen auf angenehmen Komfort schließen. Kullmann interessierte sich jedoch mehr für die halbhohe Mauer aus Naturstein mit ihrem gusseisernen Aufsatz. »Jetzt sehe ich endlich einmal diesen umstrittenen Gartenzaun.«
»Die Tatsache, dass dieser Gartenzaun ein öffentlicher Streitgegenstand ist, macht ihn erst interessant«, erkannte sie. »Sonst würde wohl keinem auffallen, wie schön er ist.«
Wenige Meter weiter beeindruckte eine Villa in Terrakotta mit weißen Balkonen. Häuser ganz aus Holz zogen ebenfalls ihre Aufmerksamkeit auf sich.
An der Kreuzung bogen sie rechts ab. Dort trafen sie auf die Hostellerie Waldesruh.
Die rustikale Einrichtung gefiel Kullmann sofort. Die Tür zum Jagdzimmer stand offen. Die Wände waren übersät mit Geweihen von Böcken, die wie heimische Trophäen anmuteten. Die Gedecke waren alle in Jägergrün.
Jürgen Schnur und Esther Weis warteten im Restaurant nebenan. Sie saßen direkt am ersten Tisch vor einem Schrank mit aufwendigen Schnitzereien. Dort zierten neben antiken Bauernmöbeln Hirschgeweihe die Wände. Eine große Theke in der Mitte beherrschte das Speiselokal.
»Schön, dass ihr noch auf meine Hilfe zählt. Das neue Informationssystem wird mich bald überflüssig machen.« Mit diesen Worten trat Kullmann auf den Tisch zu. Schnur erhob sich, um seinen ehemaligen Chef zu begrüßen.
»Du wirst niemals überflüssig«, meinte er. »Ein Computer kann keine Erfahrungen sammeln.«
Kullmann lachte.
Sie ließen sich die Speisekarte reichen.
»Ihr wollt Informationen über Eduard Zimmer haben«, kam der Alte auf den Grund des Treffens zu sprechen. Als Vorspeise wählte er Wildrahmsuppe mit frischen Pfifferlingen.
Schnur nickte.
»Ich kann mich noch gut an den Fall erinnern. Eduard Zimmer hatte sich mit seiner wertvollen Repetierbüchse erschossen – eine unübliche Methode, weil es sich dabei um eine Langwaffe handelt. Also mussten wir rekonstruieren und haben feststellt, dass Zimmer groß und seine Arme lang genug waren, um sich selbst aus diesem Winkel einen Schuss zu setzen.«
»Aber es wurde keine Waffe gefunden.«
»Stimmt. Otto Siebert fand Eduard Zimmer – aber keine Waffe.«
»Otto Siebert?«, stutzte Schnur. »Das ist doch der Vater des entführten Kindes?«
»Richtig.«
»Er ist zufällig auch der Besitzer des Nachbarwaldes vom Limberg.«
»Die Hessmühle«, bemerkte Schnur.
»Nach der Entführung trat er freiwillig von seinem Amt als Staatssekretär zurück. Angeblich brauchte er Zeit, um sich von dem Schrecken zu erholen. Das tat er, indem er sich in die Abgeschiedenheit zurückzog. Dabei stieß er auf den Toten.«
»Darauf stoßen ist ein bisschen übertrieben. Die Leiche lag zweihundert Meter tiefer«, korrigierte Schnur. »Ich staune, wie er sie überhaupt sehen konnte.«
»Willst du die Aussage dieses Mannes anzweifeln?«
»Ich sehe nur Ungereimtheiten.«
»Du siehst Gespenster! Eduard Zimmer starb durch ein Projektil aus seiner eigenen Waffe. Es steckte in seinem Körper, weshalb wir es genau überprüfen konnten.«
»Heißt das nicht, dass er aus großer Entfernung erschossen wurde?«
»Nein. Der Schuss war aufgesetzt. Die Kugel blieb im Körper, weil sie auf einen Knochen prallte.«
Die Vorspeisen wurden serviert.
Schnur begutachtete den Inhalt seines Tellers, während er fragte: »Was hat Otto Siebert in einem Revier zu suchen, das ihm nicht gehört?«
»Ein Mensch wird doch wohl noch im Wald spazieren dürfen. Er hatte ein schreckliches Erlebnis zu verarbeiten und wollte abschalten.«
In einem sachlichen Ton fügte Schnur an: »Ich habe erfahren, dass es zwischen Zimmer und Siebert Rivalitäten gegeben hat. Deshalb wundere ich mich, dass er in seiner schwersten Zeit seine Entspannung ausgerechnet dort suchte, wo er genau das Gegenteil zu erwarten hatte.«
»Du bist wirklich gut. Alles hinterfragen, nichts dem Zufall überlassen. Dich auf den Posten zu setzen war die richtige Entscheidung. Dir entgeht nichts.«
»Deine Überzeugung ehrt mich. Würdest du diese Worte bitte vor Kriminalrat Forseti wiederholen?«
Kullmann lachte.
»Wie wurde der Tote geborgen?«, fragte Esther.
»Mit einem Lichtmastkraftwagen mit Flutlicht«, antwortete Kullmann, rieb sich mit einer Serviette über das Kinn und schob die leere Suppenschale beiseite. Das Geschirr wurde abgeräumt. Erst als sich die Wirtin vom Tisch entfernte, fügte er sinnierend an: »War das ein Aufwand, ihn nach oben zu befördern.«
»Das verstärkt meine Zweifel an Ottos Sieberts Darstellung der Ereignisse«, bekannte Schnur. »Zimmer hatte über Jahre hinweg das Wild von Sieberts Hessmühle auf das eigene Stück – auf den Limberg- getrieben und dort geschossen. Das gehört nicht zum waidgerechten Verhalten eines Jägers. Und dann findet Otto Siebert seinen Widersacher zufällig in einer Schlucht, die sonst nur mit einem Lichtmastkraftwagen zu erreichen ist.«
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