Doch als er sich endlich aufraffte und das Teleobjektiv aus dem Rucksack kramte, um wenigstens ein paar Schnappschüsse aus der Ferne zu machen, rollte die junge Frau ihre Illustrierte zusammen, stand auf, trat an den Rand des Sandkastens und rief dem Kind zu: „Komm, Schatz, wir müssen jetzt gehen“. Aber das Kind wollte nicht, es wollte sein Kuchenbacken, sein Schaufeln und Sieben nicht abbrechen. Trotzig blieb es im Sand sitzen und als die Mutter ihre Aufforderung mehrfach bekräftigte und dabei immer lauter wurde, fing es an zu plärren. Schließlich stapfte sie unwirsch durch den Sand, hob das schreiende, strampelnde, um sich schlagende Wesen hoch, trug es zum Kinderwagen und setzte es mit Schwung in den Sitz, so wie man einen schweren Sack abwirft. Sie war sichtlich genervt und schimpfte. „Wir gehen jetzt, basta. Hör sofort auf zu schreien, sonst kommst du gleich ins Bett. Kapiert?“ Die Drohung wirkte, das Geheul ging in ein unregelmäßiges Schluchzen und Schniefen über. Die Frau beruhigte sich, aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihre Stimmung auf den Nullpunkt abgesackt und die Gelegenheit für ein paar nette Fotos war dahin. Doch als sie mit dem Kinderwagen auf seine Bank zukam, stand er zu seinem eigenen Erstaunen auf, lächelte sie an, hob die Kamera etwas in die Höhe und fragte sie genau das, ob er ein paar Bilder von ihr machen dürfe. Die Frau blickte ihn perplex an. Ihre Augen verfinsterten sich noch mehr und zusätzlich bildete sich eine steile Falte auf ihrer Stirn. Man konnte ihre Gedanken förmlich an diesem Gesichts-ausdruck ablesen: „Dieser Spinner will doch nicht hier und gerade jetzt, bei dem Stress mit dem Balg, ein Bild von mir machen“? Ihre Antwort war kurz und brüsk: „Nur gegen Bezahlung“. Trotz der eindeutigen Ablehnung blieb sie mit dem Kinderwagen direkt vor ihm stehen. Er zuckte mit den Schultern, ließ den Fotoapparat wieder sinken, murmelte „dann eben nicht“ und „für's Fotografieren zahl ich nichts, ich nehme höchstens was dafür“ und bückte sich, um seinen Rucksack von der Bank aufzuheben, die Kamera wieder zu verstauen und seine Stadtwanderung fortzusetzen. Im selben Moment bückte sich auch die junge Frau, weil sie bemerkte, wie das Kind die Sand verkrustete Plastikschaufel mit Behagen ableckte. Sie schimpfte wieder, riss die Schaufel empört aus den Händen des verdutzten Kindes und löste dadurch einen neuen Schreianfall aus. Und auch bei ihm hatte ihr tiefes Hinabbücken etwas ausgelöst. Er war wie elektrisiert, denn er konnte gar nicht anders, als direkt und aus kürzester Distanz in ihre aufgeknöpften Bluse zu starren, eine chice bordeauxrote Bluse, auf ihre wohlgeformten Brüste, auf zwei feste, volle, sinnliche Halbkugeln, die in einem lila Hauch von BH ruhten, einem filigranen Netzwerk, soviel er sah. Und er folgte zum zweiten Mal einer spontanen Eingebung und fragte: „Wie viel wollen Sie denn?“
Sie posierte, anfangs etwas lustlos auf einer Bank sitzend, dann, schon mit mehr Interesse, dekorativ versteckt hinter den Blättern und Zweigen der Büsche, die den Spielplatz umgaben. Er machte ein paar romantische Bilder mit verschwommenem Vordergrund und sagte ihr dann, sie solle sich an den Stamm eines der großen Bäume lehnen. Das war die letzte Anweisung, die er ihr geben musste, denn mit jeder neuen Einstellung wuchs ihre Begeisterung. Sie machte eigene Vorschläge und setzte sie spontan um. Schon die Art, sich an den Baumstamm zu lehnen, ihn zu umarmen, sich wie die Schlange im Paradies zu räkeln, nein besser gesagt, ganz wie Eva, die nur das eine Ziel hat, Adam zu verführen, zeigte ihren Einfallsreichtum und ihre Freude, Fotomodell zu spielen. Nach dem Baum balancierte sie waghalsig auf dem maroden Balken der Wippe, kletterte auf den verdreckten Tischtennistisch und tanzte dort einen rasanten Hip-Hop, um sich schließlich sogar auf die blanke Aluminiumrinne der Kinderrutsche zu legen und in den Sand zu kullern. Die Kleine, es war doch ein Mädchen, sah dem Treiben ihrer Mutter höchst interessiert zu und rief „auch Sand spielen“. Als sie das Kind daraufhin aus dem Wagen hob und zurück in den Sandkasten trug, lachte es vor Freude laut auf und begann sofort Sand auf die Mutter zu werfen. Diese hob ihre Hände abwehrend hoch, drohte zum Spaß mit dem Zeigefinger und schubst das Kind so lange, bis es auf dem Rücken lag und mit den Beinen strampelte. Dann legte sie sich zu ihm in den Sand, kitzelte es unter den Armen und in den Kniekehlen und ließ eine Handvoll Sand nach der anderen auf seinen Bauch rieseln. Die beiden tobten, lachten aus vollem Hals, alberten herum, gieksten und prusteten vor Vergnügen. Er kam derweil kaum nach all die hübschen Motive auf seine Speicherkarte zu bannen.
Die Aufnahmen der jungen Frau allein und auch die mit ihrem ausgelassenen Kind hatten ihm zunehmend Spaß gemacht, obwohl ein Spielplatz keine aufregende Kulisse und eine Mutter mit Kleinkind kein übermäßig anregendes Motiv ist. Er war aus einem anderen Grund begeistert, weil er nämlich schon nach kurzer Zeit gemerkt hatte, dass die junge Frau ein großes Talent zum Posieren besaß und zudem ausdrucksstark und variantenreich in die Kamera blickte. Fast schon wie ein professionelles Modell, dachte er. Doch irgend wann war das Thema ausgereizt, alle Stellungen waren schon einmal eingenommen und festgehalten worden und es schien, dass die kreative Phase seiner Aktrice sich dem Ende näherte. Das war aber nicht weiter schlimm, denn er hatte die Bilder, die er wollte, nein, er hatte viel mehr und viel bessere, als er sich vorgestellt hatte und war eigentlich ganz zufrieden, soweit man als Fotograf mit seinem Werk zufrieden sein kann, weil man immer eine neue, eine besser Idee hat, kaum dass die Aufnahmen gemacht sind. Sie einigten sich, Schluss zu machen, nur die Kleine im Sandkasten wollte noch nicht aufhören und rief „mehr spielen, Mama“, aber die Mama erklärte resolut, jetzt sei Schluss, stellte sie auf die Beine, klopfte auf ihrer Kleidung herum, um sie zu entsanden und setzt sie wieder in den Sportwagen. Er verstaute derweil die Kamera in dem rosa Rucksack, zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und gab der Frau den vereinbarten Geldschein. Wegen des Herumtobens und Herumalberns immer noch etwas atemlos, fragte sie ihn, ob er ihr Abzüge schicken könne. Er nickte und notierte sich ihren Namen und ihre Adresse. Zum Abschied tätschelte er den Kopf des kleinen Mädchens, das nach all der Bespaßung jetzt vergnügt in seinem Wagen saß und streckte der Mutter die Hand hin. Doch diese zögerte, sie zu ergreifen, druckste ein wenig herum und kam schließlich mit der Sprache heraus. „Wenn du willst“ – die beiden hatten ihre anfängliche Reserviertheit rasch abgelegt und waren zum Du übergegangen - „wenn du willst und noch etwas drauflegst, können wir in meine Wohnung gehen. Dort sind wir ungestört und könnten“ sie zögerte erneut und schien zu überlegen, wie sie es ausdrücken sollte, „dort könnten wir andere, ich meine etwas freizügigere Bilder machen. Aber“, so fügte sie sofort hinzu, „du darfst das nicht falsch verstehen. Es geht nur um Bilder, sonst um nichts. Kapiert? Ich bin keine Nutte, ich schlafe mit niemandem für Geld. Ich will nur noch mehr gute Bilder von mir“.
Sie gingen in ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock eines Wohnblocks, der ganz in der Nähe lag. Der Flur war eng und dunkel und voll gestellt mit Tüten, Taschen und Schuhen und voll gehängt mit Jacken und Jäckchen. Die Wohnküche, in der er ihr folgte war sehr einfach, fast schon schäbig eingerichtet und ebenfalls reichlich unaufgeräumt. Die Frau entschuldigte sich wegen der Enge, wegen der Kleider auf dem Stuhl, wegen der Spielsachen auf dem Fußboden und der Essensreste auf dem Tisch. Sie setzte das Kind in einen Hochstuhl und wärmte ihm in einem Emailletopf auf einem schon fast historischen Elektroherd Milch auf. Als sie danach begann das Gröbste aufzuräumen, bat er darum, sich in der Wohnung umsehen zu dürfen. „Ich will mir ein Bild von der location machen“ - er benutzte im Zusammenhang mit Fotografieren gerne englische Worte wie location, shooting, casting oder model – „um zu sehen wo und wie wir deine, wie hast du noch gesagt, etwas freizügigeren Aufnahmen machen können“. „Kein Problem, mach nur, ich koch uns noch schnell einen Kaffee.“ Sie schüttete Kaffeepulver in eine zerbeulte Espressokanne aus Aluminium und stellte sie auf die noch heiße Herdplatte. Er warf erst einen Blick in das kleine Bad und dann in das überraschend geräumige Schlafzimmer. Hier fiel ihm ein brandneuer, großer Fernsehapparat auf, der auf einer Kommode stand und nicht so recht in die armselige Umgebung der Wohnung passen wollte. Die Bewohnerin pflegte wohl am liebsten im Liegen fernzusehen, von ihrem sehr breiten Bett aus. Dieses nahm viel Platz ein. Ein Kinderbett sah er nicht.
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