Mehrere offene Wagen rollten hintereinander die neu eröffnete Küstenstraße einher. Man konnte über die weiten Rasenflächen weg die von den wirbelnden Speichen gebildeten Kreise sehen. Die bunten Wölbungen der Sonnenschirme hingen leicht heraus wie voll erschlossene Blüten über den Rand einer Vase; und die ruhige Fläche dunkelblauen Wassers, von einem Purpurstreifen durchkreuzt, bildete den Hintergrund für die kreisenden Räder und die weit ausgreifenden Pferde, während die turbanbedeckten Köpfe der indischen Diener, über die Horizontlinie hinausragend, am bleiernen Blau des Himmels entlangglitten. Auf einem offenen Platz nahe der kleinen Brücke bog jedes Gespann in einem eleganten Bogen vom Sonnenuntergang weg, wurde dann scharf angehalten und schloss sich der langen Reihe andrer an, die im Schritt, den tiefroten Himmel im Rücken, die Hauptallee durchzogen. Die Stämme der mächtigen Bäume zeigten alle auf derselben Seite die rote Färbung; die Luft unter dem hohen Blätterwerk schien zu brennen – sogar noch der Boden unter den Hufen der Pferde war rot. Die Räder kreisten langsam. Die Farben des Sonnenuntergangs vergingen eine nach der anderen, langsam, wie Riesenblüten, die ihre Kelche am Ende des Tages schließen. In der eine halbe Meile langen Kette sprach keine menschliche Stimme ein vernehmliches Wort, nur der leise Hufschlag war zu hören, mit dem gelegentlichen Klingeln vermischt, und die reglosen Köpfe und Schultern von Männern und Frauen, die nebeneinander saßen, ragten über die niedergelassenen Verdecke empor, wie aus Holz geschnitzt. Ein Gespann aber, das später ankam, schloss sich der Reihe nicht an.
Es flog lautlos dahin. Beim Betreten der Allee scheute einer der dunklen Braunen, bog den Hals und drückte sich schnaubend mit der Stahlkappe gegen die Deichsel. Eine Schaumflocke flog vom Gebiss gegen die seidige Schulter, und das dunkle Gesicht des Kutschers lehnte sich augenblicks vor, während die Hände in die Zügel nachgriffen. Es war ein langer, dunkelgrüner Landauer, der sich zwischen den scharfgebogenen C-Federn feierlich schwebend fortbewegte, und dessen äußerste Eleganz den Eindruck hochamtlicher Würde erweckte. Er schien geräumiger, als es sonst üblich ist, seine Pferde etwas größer, das Geschirr noch tadelloser, die Diener etwas höher auf dem Kutschbock. Die Gewänder dreier Frauen – zwei davon jung und hübsch, eine schön und voll in reifem Alter – schienen das geräumige Wageninnere ganz auszufüllen. Das vierte Gesicht war das eines Mannes mit schweren Gliedern, vornehm und hager, mit einem dicken, dunkel eisengrauen Knebel- und Schnurrbart. Seine Exzellenz...
Die schnelle Bewegung dieses einen Wagens ließ alle anderen völlig minderwertig und unansehnlich erscheinen und dazu verdammt, mühselig im Schneckentempo hinzukriechen. Der Landauer ließ die ganze Reihe in federndem Trab hinter sich. Die Umrisse der Insassen, die rasch außer Sicht glitten, hinterließen den Eindruck starrer Blicke und unbeirrter Teilnahmslosigkeit.
Kapitän Whalley hatte den Kopf gehoben, um zuzusehen, und sein Verstand, in seinen Betrachtungen gestört, wandte sich nun erstaunt, wie es der menschliche Verstand gern tut, ganz nebensächlichen Dingen zu. Es fiel ihm plötzlich ein, dass er gerade in diesen Hafen, wo er nun sein letztes Schiff verkauft hatte, mit dem ersten, das er besessen, gekommen war, den Kopf voll von dem Plan, eine neue Handelsbeziehung mit dem entfernten Teil des Archipels anzubahnen. Der damalige Gouverneur hatte ihn in jeder Weise ermutigt. Keine Exzellenz – dieser Mister Denham – dieser Gouverneur in Hemdärmeln; ein Mann, der sozusagen Nacht und Tag das schnelle Aufblühen der Niederlassung mit selbstloser Hingabe überwachte, wie eine Wärterin ein Kind, das sie liebt; ein alleinstehender Junggeselle, der mit den wenigen Dienern und seinen drei Hunden wie in einem Feldlager in dem Gebäude wohnte, das der Regierungsbungalow genannt wurde: ein Bau mit niedrigem Dach auf dem halb gerodeten Hang eines Hügels, mit einer neuen Flaggenstange davor und einer Polizeiordonnanz in der Veranda. Kapitän Whalley dachte daran, wie er in drückender Sonne zu seiner Audienz den Hügel hinaufgegangen war, dachte an den leeren Eindruck des kühlen, schattigen Raumes; der lange Tisch war an einem Ende mit Stößen von Papieren bedeckt, am anderen lagen zwei Gewehre, ein Messingfernrohr und eine kleine Ölflasche mit einer Feder darin. – Er dachte auch an die schmeichelhafte Aufmerksamkeit, die ihm der damalige Machthaber erwiesen hatte. Das Unternehmen, das auseinanderzusetzen er gekommen war, hatte seine großen Gefahren. Doch eine Unterredung von zwanzig Minuten im Regierungsbungalow hatte es glatt vom Stapel gehen lassen. Und als er sich zurückzog, rief ihm Mr. Denham, der sich schon wieder zu seinen Papieren gesetzt hatte, nach: ‚Im nächsten Monat geht die „DIDO“ auf Kreuzfahrt in Ihre Nähe. Ich werde den Kapitän nachdrücklich auffordern, nach Ihnen zu sehen.’ Die „DIDO“ war eine der schmucken Fregatten der Chinastation – und fünfunddreißig Jahre sind eine große Zeitspanne. Vor fünfunddreißig Jahren war ein Unternehmen wie das seine für die Kolonie wichtig genug, dass ein königliches Schiff geschickt wurde, um nach ihm zu sehen. Eine große Zeitspanne. Damals hatte der einzelne Mann noch seinen Wert. Männer wie er; Männer auch wie der arme Evans zum Beispiel, mit seinem roten Gesicht, seinem kohlschwarzen Backenbart und den ruhelosen Augen, der am Rande des Urwaldes, in einer einsamen Bai, drei Meilen weiter aufwärts, die erste Patenthelling zur Ausbesserung kleiner Schiffe eingerichtet hatte. Mr. Denham hatte auch dieses Unternehmen ermutigt, und doch war der arme Evans schließlich in der Heimat in traurigen Verhältnissen gestorben. Sein Sohn, hieß es, presste Öl aus Kokosnüssen, auf irgendeinem gottverlassenen Inselchen des Indischen Ozeans, um nur leben zu können. Aus dieser Patenthelling aber, in einer einsamen, waldigen Bucht, waren die Werkstätten der Vereinigten Dockgesellschaft entstanden, mit ihren drei Trockendocks, die aus gewachsenem Fels gesprengt waren, mit ihren Werften, Hafendämmen, ihrer elektrischen Lichtanlage und dem Kesselhaus – mit ihren ungeheuren Mastenkranen, die stark genug waren, um die schwersten Gewichte zu heben, und deren Oberende wie die Spitze eines eigenartigen Denkmals über das sandige Vorland und die Waldgipfel weg zu sehen war, wenn man von Westen her in den Hafen einfuhr.
Ja, das war eine Zeit gewesen, in der die Männer etwas galten: damals gab es nicht so viele Gespanne in der Kolonie, obwohl Mr. Denham, soviel er sich erinnerte, ein Buggy gehabt hatte. Und Kapitän Whalley hatte das Gefühl, als würde er von einer geistigen Rückströmung aus der großen Allee hinausgespült. Er erinnerte sich an morastige Ufer, an einen Hafen ohne Quais, an den einzigen hölzernen Landungssteg, der von der Gemeinde errichtet war und sich wackelig ins Meer hinausstreckte. An die ersten Kohlenschuppen, die auf Monkey Point errichtet wurden, dann geheimnisvoll in Brand gerieten und tagelang glimmten, so dass die einfahrenden Schiffe zu ihrer Verwunderung in eine Reede voll von Schwefeldämpfen gerieten, über der die Sonne glutrot im Mittag hing. Er erinnerte sich an die Dinge, die Gesichter und noch etwas daneben – wie an den feinen Duft einer bis auf den Grund geleerten Schale, an ein gewisses Etwas in der Luft, das sich in der Luft dieser Tage nicht mehr vorfand.
In dieser rückschauenden Stimmung, die rasch und deutlich alle Einzelheiten hervortreten ließ, wie ein Aufblitzen von Magnesiumlicht in den Nischen einer dunklen Gedächtnishalle, betrachtete Kapitän Whalley die Dinge, die einst wichtig gewesen waren, die Anstrengungen kleiner Leute, das Wachsen eines großen Platzes, was alles nun sein Gewicht verloren hatte durch die Größe des Erreichten und die Hoffnung auf eine noch größere Zukunft; das gab ihm einen Augenblick lang eine so brennende Klarheit des Zeitbegriffs, ein solches Verständnis für unsere unveränderlichen Gefühle, dass er kurz stehen blieb, seinen Stock auf den Boden stieß und ausrief: „Was zum Teufel tue ich hier!“ Er schien in Überraschung verloren; da hörte er eine klägliche Stimme einmal, zweimal seinen Namen rufen – und wandte sich langsam um.
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