Ihr Atem stockte, sie strauchelte, verlor ihr Gleichgewicht und wäre gestürzt, hätten sie nicht im letzten Moment zwei starke Arme gepackt, bevor sie auf den harten Marmorboden aufschlug. Samael zog sie hoch, stütze sie am Ellenbogen und fixierte sie mit seinem Blick. Sie starrte mit glasigen Augen zurück. Ilena war benommen zumute, doch nahm sie den bohrenden Blick ihres Begleiters wahr. Seine Augen waren vor Schreck geweitet, und das Funkeln in dem Braun war verschwunden. Für einen Moment wirkten sie leer, dann packte er sie unsanft am Arm und zerrte sie etwas grob hinter sich her. Langsam wich die Starre von ihr, und sie wand sich aus seinem Griff, doch dieser wurde nur noch eiserner. Bestimmt hinterließen seine Finger rote Flecken auf ihrer blassen Haut. Mit seiner freien Hand stieß er eine schwere Tür auf, die ihnen den Weg in das angrenzende breite Treppenhaus freigab.
»Ich...«, setzte sie an, doch er beachtete sie nicht, stattdessen hastete er mit ihr die Treppen hinauf. Ohne ein Wort zu verlieren, ließ er sie plötzlich stehen und spurtete ein weiteres Stockwerk hinauf. Was ist denn in den gefahren? Verdammt!, schimpfte sie innerlich und runzelte die Stirn. Eben noch herzensnett und jetzt so kalt wie Eis. Er hatte den zweiten Stock erreicht und verschwand einfach hinter einer Tür, welche er laut zuknallen ließ. So ein egoistischer Mistkerl!, dachte sie im Weitergehen, während sie mit angewidertem Blick die Treppe hinaufstapfte. Neben der Tür stand ein breiter, mit Samt gepolsterter Stuhl. Sie ließ sich darauf nieder und verschränkte trotzig ihre Arme. Was hat den denn so schockiert? Na gut, sie hatte ziemlich heftig auf das hintere Fresko reagiert, aber dafür konnte sie doch nichts.
Beim Betrachten dieses düsteren Bildes hatte es sie geschaudert. Es fühlte sich an, als wäre sie plötzlich wieder mitten in ihrem Albtraum. Doch da war noch etwas anderes. Die Welt um sie herum verschwamm und erschrocken nahm sie wahr, dass ihr Geist für den Bruchteil einer Sekunde in eine andere Dimension glitt. Sie versuchte sich an die Einzelheiten zu erinnern. Ilena hatte es nicht klar gesehen, aber da waren diese grauen Gestalten, welche suchend durch den Wald geisterten. Als Ilena zu erkennen versuchte, was sie zu finden hofften, wurde das Bild wieder unscharf, und sie starrte in die erschrockenen Augen Samaels. Was auch geschehen war, es hatte ihm offenbar Angst eingejagt. Und nun saß sie hier. Unwissend, wo sie war, was sie hier sollte, und warum er sich plötzlich so verändert hatte.
In diesem Moment schwang die Tür neben ihr auf. Samael und zwei weitere Männer traten heraus und direkt vor sie hin. Der Ältere von beiden, finster dreinblickend, war edel gekleidet. Seine silbergrauen, langen Haare waren nach hinten gekämmt und er hielt etwas in der Hand, das wie ein in rotes Leder gebundenes Buch aussah. Zwischen seinen Augen und um seinen Mund lagen tiefe Falten, was auf sein höheres Alter schließen ließ. Ilena schätzte ihn auf Ende 70. Der zweite Mann lächelte und schien etwas freundlicherer Natur zu sein. Er war vielleicht fünfzehn Jahre jünger, edel, aber nicht ganz so verschwenderisch gekleidet. Sie schaute von einem zum anderen und dann forschend zu Samael, doch ihr Blick prallte an ihm ab. »Los, steh auf!«, herrschte er sie an. Doch Ilena blickte ihn nur ausdruckslos an und machte keinerlei Anstalten, seinem Befehl zu folgen oder auch nur eine Sekunde daran zu denken. Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, und plötzlich wich der harte Ausdruck von seinem Gesicht. »Komm, steh auf, sie wollen dich nur kennenlernen und dir einige Fragen stellen über deinen Albtraum und das, was eben...«, er räusperte sich, »und über den Zwischenfall von eben.«, beendete er seinen Satz.
Widerwillig erhob sie sich. Die Männer wandten sich ab und sie folgte ihnen. Bisher hatte keiner von ihnen etwas gesagt, sie hatten sie nur eindringlich gemustert. Sie führten Ilena in einen geräumigen, aber nicht abweisend wirkenden Saal. An den Wänden ragten hohe, schwere Bücherregale bis an die Decke und ein langer, schwerer Arbeitstisch stand am anderen Ende des Zimmers. Links von der Tür befand sich eine Sitzecke. Die Polster waren so dick, dass man bestimmt wunderbar darauf herumhüpfen konnte. Prompt dachte sie an ihren kleinen Bruder. Ob er wohl mittlerweile aufgewacht ist und so wie immer in mein Zimmer spaziert, um zu sehen, ob ich schon wach bin? Was ist bloß passiert? Liege ich noch immer im Bett und träume nur oder bin ich wirklich hier?
Samael riss sie aus ihren Gedanken, als er auf das Sofa wies und sie dorthin führte. Sie lies sich in die weichen Kissen sinken. Neben ihr tat ihr Begleiter es ihr nach, während die beiden älteren Männer sich in Sessel ihnen gegenüber setzten. Seitlich im Kamin loderten Flammen und verbreiteten knackende Wärme. Dann begann der Ältere zu reden: »Sei uns willkommen. Ich bin Sapientios, der Anführer Belorahs und das ist Kilian, er ist für unser aller Sicherheit zuständig. Wie man uns sagte, nennt man dich Ilena. Samael hatte uns vom gestrigen Vorfall und deiner starken Reaktion auf das Fresko berichtet. Wir sind mit ihm einer Meinung, dass sich die Prophezeiung endlich weitgehend erfüllt hat und du die große Kriegerin bist, die wir schon so lange sehnlichst erwarten. Samael erzählte uns auch von deinen Albträumen, und wie es sich zugetragen hat, dass du schließlich auf der Wiese standest.«
Er machte eine Pause in seinem Redefluss und sah Ilena aufmerksam an. Sie nickte bestätigend. Dann wechselte er einen kurzen Blick mit Samael: »Wie Samael uns ebenfalls schilderte, kam es soeben in der Eingangshalle zu einem kleinen Zwischenfall. Was ist geschehen?« Sein Blick durchbohrte sie. Zögernd machte sie den Mund auf und nach kurzem Überlegen wieder zu. Wie sollte sie ihm erklären, was dort unten passiert war? Sie verstand es ja selbst nicht. »Du wirktest wie abwesend und hattest dein Gleichgewicht verloren, erzählte uns Samael«, kam der Mann ihr entgegen. »Ja, das stimmt. Ich hatte mir die Fresken an der Decke angesehen. Ich fand sie wunderschön, doch dann bin ich auf die Abbildung in der hintersten Ecke aufmerksam geworden und habe sie genauer betrachtet. Beim Anblick der dargestellten Szene verschwamm plötzlich alles um mich herum.« Sie stockte kurz und atmete tief durch. »Erst war alles schwarz, dann sah ich Gestalten. Sie waren grau gekleidet und suchten nach etwas oder jemandem, keine Ahnung. Ich habe es nicht klar wahrnehmen können, und von einer Sekunde auf die andere war ich wieder bei Sinnen.«
Zunächst sagte niemand etwas. Neben ihr rutschte Samael auf dem Sofa ein Stück weiter nach hinten und atmete hörbar aus. »Also suchen sie bereits nach ihr und unserem Versteck«, schlussfolgerte er. Die Männer nickten bedächtig und der Jüngere erhob sich umständlich. »Wir sollten die Ratsversammlung über das Geschehene aufklären, Ilena.« Mit diesem Satz verbeugte er sich leicht und reichte ihr seine Rechte. Verlegen legte Ilena ihre Hand in seine, woraufhin er sie zu einer versteckten, in ein Bücherregal eingelassenen Tür führte. Ein Tritt auf eine lockere Bodenplatte und sie schwang nach innen auf. Dahinter offenbarte sich ein schmaler Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Samael und Sapientios waren ihnen schweigend gefolgt. Unmittelbar bevor sie die Tür erreicht hatten, legte Kilian ihre Hand in die des Anführers und zog sich einen Schritt zurück.
Wissend wechselten dieser und Samael einen Blick, ehe sich die mit Eisen beschlagene Holztür auftat. Eine angespannte, stille Dunkelheit umfing sie. Ein letzter erschrockener Blick über ihre Schulter hinweg galt Samael, ehe Sapientios sich ihr zuwandte, ihr tief in die Augen sah, unverständliche Worte flüsternd. Urplötzlich wurden ihre Lider schwer und ein gedämpftes Pochen beherrschte ihren Kopf. Seine leisen Worte hallten in ihrem Inneren wieder, und bevor Ilena fragen konnte, was sich abspielte, legte der Anführer ihr eine Hand auf den Rücken. Vorsichtig schob er sie voran und gab ihr einen sanften Stoß, sodass sie durch den aufkommenden, dichten Nebel schritt.
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