Jetzt oder nie, dachte sie sich, drehte sich unerwartet schnell zur Seite und rollte sich unter seinem Arm hinweg. Sofort sprang sie auf und Triumph glitzerte in ihren Augen. Tja, ausgetrickst! Sie freute sich über seinen verwirrten Gesichtsausdruck und stemmte zufrieden ihre Arme in die Hüfte. Samael stöhnte und sprang ebenfalls auf. Sein Blick flammte noch, als er einen Schritt auf sie zukam und eine Augenbraue hochzog. Fröhlich hüpfte sie über das Heu, um ihm endgültig zu entkommen. Auf einmal verschwand der Boden unter ihren Füßen und in der nächsten Sekunde krachte sie durch die Decke auf den heubedeckten Boden der Scheune. Ihre Beine knickten ein, sie strauchelte und landete hart auf ihren Knien. Von oben erschallte ein lautes Lachen, und da schwang Samael sich auch schon über die Kante zu ihr herunter. Ein kurzer Blick hinauf bestätigte ihr, was sie befürchtet hatte: Über ihr war ein Loch in der Tenne. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihn nicht einfach so austricksen konnte, ohne dafür zu büßen. Er baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf und grinste.
»Kleine Sünden bestraft der Allmächtige eben sofort!«, sagte er betont höhnisch, beugte sich vor und zog sie wieder hoch auf die Füße. Schnaubend klatschte sie mit ihren Händen auf ihre Beine und ihren Po, um den Staub und das Heu abzuklopfen. Samael wirkte gelassen, und nicht das Geringste deutete darauf hin, was er eben noch offensichtlich gefühlt hatte. Das verdankte er der jahrelangen Übung, die eigenen Regungen zu kontrollieren – eine wichtige Eigenschaft eines Kriegers. Er lehnte sich entspannt an das Scheunentor und musterte sie. Ilena stand etwas unbeholfen vor ihm und versuchte beschäftigt zu wirken, indem sie Staub an Stellen abklopfte, wo längst keiner mehr war. Er musterte sie. Ihre braunen Haare, in einen dicken Zopf geflochten, gingen ihr bis zur Taille. Sie war um die anderthalb Köpfe kleiner als er. Ihre sportliche und doch weibliche Figur, wurde durch das enganliegende Wildlederkostüm noch betont. Ihre hohen Wangenknochen und die etwas schräg stehenden braunen Augen gaben ihrem schönen Gesicht etwas Katzenhaftes. Seine Augen suchten die ihren und erhaschten einen Blick voller Neugier, gepaart mit einem Hauch von Schüchternheit, der ihm ein Lächeln entlockte.
Sie sahen einander an, doch keiner sagte etwas. Beide in Gedanken versunken, schreckten sie plötzlich hoch, als die Tür hinter Samael aufschwang und dieser überrumpelt nach hinten stolperte. Der gutaussehende Engel, der sie an ihrem ersten Tag in Belorah so beeindruckt hatte, stand vor ihnen und musterte sie beide mit einem sympathischen Lächeln im Gesicht. »Hattest du etwa vor, sie die ganze Zeit für dich zu beanspruchen?«, fröhlich zwinkerte er ihr und Samael zu, der sein Gleichgewicht wieder zurückgewonnen hatte und sich von Ilena abwandte. »Ich wollte sie den anderen gleich vorstellen, ihr kennt euch ja schon. Allerdings waren wir gerade dabei, ein kleines Problem zu lösen. Sie kann nämlich nicht reiten.« Beide Engel schauten Ilena an, während sie sich so unterhielten, als wäre sie gar nicht anwesend.
»Nicht reiten? So, so, das könnte einige Schwierigkeiten geben. Ich habe gehört, dass wir gleich aufbrechen sollen, um die Kerle aufzuspüren, die sich in unseren Wäldern herumtreiben?« Nun hatte er sich wieder Samael zugedreht, der meinte: »Könntest du den anderen Bescheid geben, dass wir uns am Südtor treffen, sobald die Sonne ihren Zenit erreicht hat? Und packt so, dass wir ein paar Tage über die Runden kommen. Es ist uns erst gestattet zurückzukehren, wenn wir die grauen Wukogi und die Sluvrak gestellt haben!«
Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte sein Gegenüber Ilena bevor er antwortete. »Und was ist mit ihr? Ich meine, wenn sie nicht reiten kann, wie regeln wir das?« »Das weiß ich auch nicht. Ich schätze, das müssen wir jetzt noch üben, bevor wir uns treffen.« Samael drehte sich um, und sein Blick schweifte über die Wiese. Dann pfiff er einmal kurz und durchdringend, und sein Hengst kam herangetrottet. »Ich bin übrigens Danyal«, der andere Engel reichte Ilena seine Hand. »Ich schätze mal, du kennst meinen Namen bereits«, entgegnete sie und gab ihm die ihre. »Ja, ich glaube, hier haben schon alle von dir gehört. Ich hätte mir nie erträumt, dass eine so reizende junge Frau wie du unsere Retterin sein soll. Hätte ich das gewusst, hätte ich…« »Lass gut sein Danyal. Wir sehen uns später«, unterbrach Samael ihn mit einem Lachen und schob ihn aus der Scheue heraus. Danyal warf Ilena einen letzten, vielsagenden Blick zu, ehe er sich auf den Weg machte, die anderen zusammenzurufen und alles für ihre spätere Jagd vorzubereiten.
Zugegeben, diese Engel sahen zum Anbeißen gut aus. Danyal glich Samael auf verblüffende Weise, und doch waren sie in ihrer Mimik und Körpersprache verschieden. Vielleich war es der Blick, mit dem sie Ilena ab und zu streiften oder aber auch die Entschlossenheit, die beide unübersehbar ausstrahlten. Zudem beeindruckten beide mit diesen weißen, prächtigen Flügeln. »Er ist auch einer meiner Brüder, der Zwillingsbruder von Selaiah«, riss Samael sie aus ihren Gedanken. »Wie kommt es, dass ihr hier im Dorf seid? Ich dachte Engel gibt’s – wenn überhaupt – nur im Himmel«, wunderte sich Ilena.
Als sie ihn forschend beobachtete, bemerkte sie, wie ihm, wenn auch nur für einige Sekunden, die Farbe aus dem Gesicht wich. »Das ist eine lange Geschichte, die werde ich dir ein anderes Mal erzählen«, erwiderte er knapp. »Und was ist mit euren Flügeln? Kann man die ablegen? Und warum reiten wir, wenn ihr auch fliegen könntet?«, hakte Ilena neugierig nach. Samael stöhnte innerlich. Warum sind Frauen immer so neugierig? Kein Wunder, dass Eva den Apfel vom Baum gepflückt hatte, und die Menschen das Paradies verlassen mussten. »Über ihnen liegt ein Zauber, und sie sind oft nur als goldene Tätowierung sichtbar, bis wir sie benötigen, dann entfalten sie sich reflexartig.« »Und was ist mit den Klamotten, hast du dafür Löcher in deinen Hemden, wie für deine Arme?« Samael verdrehte die Augen: »Du bist vielleicht eine Nervensäge. Ich sagte doch gerade, es ist ein Zauber, dafür benötigt man keine Löcher. Komm jetzt, wir haben nicht unendlich viel Zeit und streng dich ein bisschen mehr an! Sogar der Hengst scharrt schon ungeduldig mit den Hufen.«
»Oh nein, nicht noch einmal. Ich denke, ich bin dafür einfach nicht geschaffen«, gab sie ihm zu verstehen und flitzte an ihm vorbei in Richtung Straße. Hinter sich hörte sie Hufe auf dem Boden klappern und drehte sich erschrocken um. Samael saß auf dem Hengst und ritt auf sie zu. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, doch seine Mimik verriet diesmal nicht, was in ihm vorging. Wie sie ihn so sah, ahnte sie Böses, konnte sich aber noch nicht vorstellen, was er vorhatte. Im Bruchteil einer Sekunde beugte er sich vom Pferd zu ihr herab, packte sie von hinten und zog sie zu sich hinauf. Der Hengst galoppierte in Windeseile weiter. Sie war zu keiner Reaktion fähig, nur ihre Augen starrten weit aufgerissen auf die vor ihnen liegende Straße. Die kleinen Häuser, die sie säumten, flogen nur so an ihnen vorbei. »Alles gut bei dir?«, raunte Samael ihr ins Ohr. »Ganz und gar nicht!«, brachte sie gepresst hervor und hielt sich angestrengt mit ihren Händen an der Mähne des Pferdes fest, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Gar nichts war gut. Sie saß so wacklig auf dem Rücken, dass sie wahrscheinlich demnächst heruntergefallen wäre, hätte Samael sie nicht mit einem Arm um ihre Hüfte festgehalten.
Dass er sie so umschlungen hielt, machte es auch nicht besser, denn unter seiner Berührung wirbelten ihre Gedanken umher, und sich zu konzentrieren, fiel ihr enorm schwer. Er brachte sie zu schnell aus der Fassung. Dabei war sie es gewohnt, immer die Lage zu beherrschen. Ilenas Gefühle spielten verrückt, wenn er ihr so nah war. Sie zwang sich, sich zusammenzureißen, wenn er es schon nicht tat; schließlich war Samael verboten für sie. Sie lebte in einer anderen Welt, in der man sich nicht auf Pferden fortbewegte, und die keine Mostrana, Engel oder diese anderen Gestalten bevölkerten. Dies hier war eine komplett andere Sphäre und sie gehörte nicht hierher! Sie musste einen Weg zurückfinden, schon allein ihrer Familie wegen.
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