Samael trat an sie heran und neigte sich zu ihrem Ohr herab: »Mach jetzt keinen Aufstand, ich erkläre es dir später. Du befindest dich gerade vor unserem Ältestenrat!« Die Zähne aufeinanderpressend rutschte Ilena von der schmalen Tischplatte auf den hölzernen Boden herab. »Wenn ich bitten darf?«, fragte Sapientios, hielt der jungen Frau seine Hand hin und deutete mit der anderen auf einen nahestehenden Stuhl. Zweifelnd musterte sie ihn und zog es vor, sich alleine an den vorgesehenen Platz zu begeben, weshalb sie mit einem Kopfnicken dankend ablehnte. Sapientios konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, schritt voran und ließ sich auf einem pompösen Stuhl nieder, der die Kopfseite der Tafel zierte. Der Ältestenrat bestand vorwiegend aus Männern jeglichen Alters. Die einzige Ausnahme machte die Frau, die sie gerade so herablassend empfangen hatte. Sie trug ihre schwarz-grauen Haare in einem strengen Pferdeschwanz.
»Nehmt bitte Platz!«, tönte es von der Kopfseite zu ihr herüber. Ilena hatte sich an eine der langen Tafelseiten gesetzt und beobachtete das Geschehen. Einige der Männer mit grauen Bärten hatten ihre Köpfe zusammengesteckt und wild gestikulierend diskutiert, ehe der Befehl des Anführers durch den Raum hallte. Jetzt bewegten sie sich ehrfürchtig herüber zu ihren Plätzen, wo Diener ihnen die Stühle zurückzogen und ihnen beim Hinsetzen halfen. Nachdem sich jedes Mitglied der Runde niedergelassen hatte, ertönte Sapientios` machtvolle Stimme: »Den jüngsten Geschehnissen nach zu urteilen, befinden wir uns mehr im Krieg denn je. Wir haben alles in unserer Macht Stehende versucht, diese grausame Meute, mitsamt ihres Anführers, in Schach zu halten und sie aus unseren Wäldern zu vertreiben! Doch muss ich euch leider mitteilen, dass ihre Streifzüge bisher kein Ende gefunden haben und wahrscheinlich auch in näherer Zukunft nicht aufhören werden. Die Wukogi durchstreifen unsere Wälder, nehmen Schutzlose und Unschuldige gefangen und sperren sie in ihre uneinnehmbare Burg. Unsere Armee ist zu klein, um gegen die ihre zu ziehen. Unsere einzige Chance, dieses Unheil zu beenden, ist auf unser Schicksal zu vertrauen und unser Leben in die Hände dieser jungen Frau, unserer neuen Kriegerin, zu legen!«
Seine Augen glitten über die Reihen der angespannten Gesichter der Ratsmitglieder hinweg, bis hin zu Ilena und betrachteten sie bedeutsam. »Ilena, wirst du an unserer Seite kämpfen, unsere Truppen anführen und uns von dieser Last befreien?« Unsicher zuckte ihr Blick zwischen den fragenden Gesichtern der Stammesältesten hin und her. Wie konnte sie für etwas garantieren, das dem Möglichen so fernlag? Samael, der sich hinter ihrem Stuhl aufgestellt hatte, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Sofort machte sich ein Gefühl der Kampfbereitschaft in ihr breit, und sie stand entschlossen auf. »Ja, das werde ich!«, gab sie mit feierlicher Stimme bekannt.
»Das ist doch lächerlich!«, erklang es vom anderen Ende des Raumes, aus dem Mund der strengen Frau. Verärgert stand auch sie auf und deutete drohend mit einem Finger auf Ilena: »Dieses kleine Mädchen ist doch überhaupt nicht in der Lage, uns auch nur den geringsten Sieg zu erringen! Sie kann doch nicht einmal die Aktination bewältigen! Wie soll sie dann da draußen«, ihr Arm zeigte zum Fenster, »auch nur einen einzigen Tag überleben oder gar unsere Truppen anführen?« Jetzt mischte sich ein anderer Mann, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, ein. »Phylia hat recht! Wir dürfen ihr nicht unser Schicksal überlassen, sie wird uns ins Verderben führen!« »Aber Proklos, wir sind bereits verloren! Wir sollten auf sie vertrauen, vielleicht ist sie unsere letzte Hoffnung«, tat ein weiterer Mann seine Meinung kund. »Was redest du denn da? Belorah geht es gut, das Volk ist glücklich und geht seinen alltäglichen Aufgaben nach. Nennst du das verloren?«, konterte Phylia. »Nur weil es innerhalb unserer Bannmauer keiner ausspricht, heißt es nicht, dass sie glücklich sind! Wer Belorah verlässt, begibt sich in Lebensgefahr. Regelmäßig verschwinden Kinder, Männer und Frauen, und deiner Meinung nach geht es unserem Volk gut?«
Phylia verdrehte genervt ihre Augen: »Wir schweifen vom Thema ab. Hier geht es nicht darum, wie gut oder schlecht es um das Wohlbefinden unseres Volkes steht, sondern ob wir diesem Mädchen unser Leben in die Hände legen sollen!« Ich bin kein Mädchen mehr, zu Hause gelte ich schon lange als erwachsen, dachte Ilena, zog es jedoch vor, dies nicht laut kundzutun. Mehr und mehr schwoll die Diskussion zu einem hitzigen Streit an. Immer weniger Ratsmitglieder harrten auf ihren Stühlen aus. Sie standen auf, schleuderten sich ihre Argumente entgegen und gestikulierten aufgeregt. Ihre Worte schepperten wie stählerne Schwerter aufeinander und ihre Blicke durchzuckten die Luft wie Blitze.
Eingeschüchtert wendete Ilena ihren Kopf und warf Samael einen hilfesuchenden Blick zu. »Komm«, erlöste er sie, zog ihren Stuhl beiseite und legte schützend einen Arm um ihre Schultern. Sie gingen um den Tisch zu Sapientios herum, der nachdenklich auf seinem Thron saß und das fiebrige Geschehen mitverfolgte. »Ich denke es ist besser, wenn ich Ilena jetzt hier herausbringe«, bemerkte Samael und riss ihn aus seinen Gedanken. Mit weisem Blick musterte der Anführer Ilena eine Weile, die ewig zu dauern schien, ehe er einem der Diener zuwinkte und dieser ihm half aufzustehen. Ohne etwas zu sagen geleitete er die beiden bis auf die andere Seite des Raumes. Seine Hand auf der Türklinke liegend flüsterte er: »Es wäre am besten, einen Trupp auszuschicken. Sie sollen aufgespürt und vernichtet werden, bevor es ihnen gelingt, uns ausfindig zu machen.« Er bedachte Samael mit einem langen Blick, bevor er weitersprach: »Du führst den Trupp an! Nimm sie mit, aber lass sie niemals aus den Augen, nicht mal eine Sekunde, hörst du? Ich vertraue der Prophezeiung, und ich glaube, dass wir in Ilena die Richtige gefunden haben!« »Ja, ich habe verstanden«, erwiderte Samael. »Gut, denn von ihr hängt unsere Rettung oder aber auch unser Verderben ab. Vergiss das nie!«
Ilena räusperte sich: »Wie könnt ihr euch sicher sein, dass sich durch mich die Prophezeiung erfüllt? Ich habe noch nie gekämpft und weiß nicht, auf welche Weise ich euch helfen könnte. Ich kann weder mit Waffen umgehen, noch kann ich schnell rennen oder sonst etwas. Warum soll ich den Trupp begleiten? Ich wäre wohl eher eine Last.« »Deine Fähigkeiten wirst du erst im Kampf erkennen«, deutete Sapientios an und nickte ihr aufmunternd zu. »Wann sollen wir aufbrechen?«, erkundigte sich Samael. »Am besten noch heute Nachmittag! Nimm vier Krieger mit und kommt erst wieder, wenn ihr sie gefunden habt. Doch einen lasst am Leben, ihn werden wir verhören müssen. Nun geht.« Samael nickte und straffte entschlossen seine Schultern. Er verbeugte sich leicht, und Sapientios öffnete die Tür. »Viel Glück! Ihr werdet es brauchen.« Ilena nickte ihm zum Abschied unsicher zu und verschwand mit Samael im angrenzenden Gang.
»Was ist vorhin mit mir passiert?«, brach Ilena die Stille, die seit Verlassen des Zimmers zwischen ihnen herrschte. Sie liefen gemeinsam den Weg zurück, den sie gekommen waren, und um sie herum war emsiges Treiben. Kinder rannten umher und spielten Fangen, Frauen hinter Verkaufsständen priesen ihre Waren an, und ein paar junge Männer lieferten sich einen Schwertkampf. »Erinnerst du dich an die Worte, die Sapientios geflüstert hat?« »Ja, allerdings habe ich nicht verstanden, was er sagte.« »Das war Sphenoi, eine sehr alte mystische Sprache.« Nachdenklich zog Ilena ihre Augenbrauen zusammen. »Seine Worte haben dich in eine Art Hypnose versetzt, in der du dich der Aktination stellen musstest. Einfach erklärt, kann man mit ihrer Hilfe die Empfindsamkeit des eigenen Geistes herausfinden und feststellen, inwieweit sich dieser über seinen Horizont hinaus ausdehnen kann oder eben, wie es bei dir war, feststellen muss, dass er noch nicht genug ausgebildet ist, um mehr als eine festgefahrene Sichtweise zu vertreten.« Ilena sah Samael skeptisch an: »Muss jeder dieses Ritual bestreiten?« »Nein. Dieses Ritual ist nur für die Krieger und Führer Belorahs vorgesehen. Es wird geprüft, ob man in einer Gefahrensituation entsprechend handeln, die wichtigen Details erkennen kann, und sich nicht vom Schein des Äußeren trügen lässt«, erklärte Samael in ruhigem Ton. »Aber jetzt genug davon. Kannst du reiten?« »Ähm...«
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