Auch zwischen March und Barrymore bestehen gewisse Parallelen, die sich nicht darin erschöpfen, dass er rund zehn Jahre nach Barrymore ebenfalls Dr. Jekyll und Mr. Hyde spielte oder wie Barrymore mit Greta Garbo, Mary Astor und Norma Shearer vor der Kamera stand. (Mit Norman Maine verband March wiederum die Ehe mit einer Schauspielerin.) Auch nicht, dass March wie Barrymore vom Theater nach Hollywood gekommen oder dass seine erste Frau mit Barrymore befreundet gewesen war. Fredric March selbst war gewissermaßen ein ausgewiesener Barrymore-Experte. Er hatte 1928 mit großem Erfolg in dem Stück „The Royal Family“ eine John-Barrymore-Parodie auf den Bühnen von San Francisco und Los Angeles gespielt (Barrymore hatte angeblich im Premierenpublikum gesessen). Der verklausulierte Bühnen-Barrymore war für March ein Karrieretriumph, der ihm kurz darauf einen Vertrag bei Paramount einbrachte – die Bühne blieb für March ein Sehnsuchtsort künstlerischer Selbstverwirklichung, das Filmstudio verführte indes mit Gagen, die in der Theaterwelt unvorstellbar waren. Die Leinwandadaption unter dem Titel „The Royal Family of Broadway“ (1930) gilt als der Film, mit dem March zum Hollywoodstar avancierte.
Ohnehin weist „A Star Is Born“, wie bereits sein Vorläufer „What Price Hollywood?“ eine manchmal tragische, manchmal komische Nähe zur Wirklichkeit auf. Selznick schwor Stein und Bein, dass 95 Prozent der Dialoge dem wahren Leben in Hollywood entstammten, „straight ‚reportage‘, so to speak“ (David O. Selznick zit. nach Behlmer 2000, S. 104.). Dazu dürfte auch die Szene gehören, in der Oliver Niles seinem inzwischen rausgeschmissenen Ex-Star dem neuen Star Vicki Lester zuliebe einen Job anbietet. Als Maine fragt: „Who plays opposite me?“, und Niles ihm antwortet: „Well, it is not exactly the lead“, da zerschlagen sich für Maine ein für alle Mal die Hoffnungen auf eine Wiederkehr alter Größe. Was hilft es da, dass Niles ihm sagt: „[…] but I tell you frankly I consider your part better than the lead“ – „one of those parts that make an impression on you: They’ll be thinking about you all through the picture.“ Wer sich im Status eines Stars wähnt und so etwas hört, weiß in der Regel, dass ihn die Branche längst abgeschrieben hat. Wieder ist es Pemberton, der Maines Platz eingenommen hat. Und wieder reagiert Maine wie ein kleiner Junge, mit kindlicher Hochstapelei: Er sei bei einem anderen Studio unter Vertrag, dürfe darüber natürlich noch nichts sagen. „But it’s a big picture. It’s one of the biggest of the year … and the part! Every actor in Hollywood would give his teeth to play it.“
Sowohl „What Price Hollywood?“ als auch die „A Star Is Born“-Ahnen gehen erstaunlich aggressiv mit der massenmedialen Berichterstattung um – mit der Sensationsgier der Presse, von der nicht zuletzt Hollywood selbst profitiert. Für die Öffentlichkeit werden mutmaßlich publikumstaugliche Namen erfunden und simple Viten zu klangvoller Fantasie aufgebauscht. Der Primat der Presse scheint jedenfalls allgegenwärtig: Als Oliver Niles auf einer Party erfährt, dass Norman Maine volltrunken am Steuer einen Autounfall hatte, ist die erste Sorge des Studiobosses: „Will it be in the papers?“ Aber Troubleshooter Libby hat bereits alles gefixt, niemand wird darüber schreiben. Später stehen Esther und Norman in Niles’ Büro und teilen ihm ihre Absicht mit, heimlich heiraten zu wollen. Nichts soll zunächst an die Öffentlichkeit dringen, so ihr Wunsch. In diesem Moment platzt Libby herein: „It will be the biggest elopement this town ever saw. We’ll get a tie-up with the army and have you escorted all the way down to Yuma, by twenty of their new bombing planes.“ Libby fantasiert weiter – eine Kirche sei als Ort der Hochzeit zu abgegriffen („It’s been done.“), stattdessen schlägt er einen Strand vor: „I can visualize it. The bridesmaids in bathing suits. Twenty thousand Santa Monica school children, spelling out the word ‚love‘.“ Sie tricksen Libby dann aber aus, indem sie einfach in einer Kleinstadt außerhalb von L.A. heiraten, wo niemand sie erkennt. Als Libby sie dort doch noch aufspürt, brausen sie davon und ihr Trauzeuge McGuire sagt zu dem wütenden PR-Chef: „Well, they’ve got a right to get married haven’t they?“ Libby entgegnet: „[…] they haven’t got any right to double-cross the public.“
Lionel Stander spielt den Presseexperten des Oliver Niles Studio als knallharten Hund, mit seiner penetranten Stimme und der hohen Sprechgeschwindigkeit eine infernalische Version eines Screwballcharakters. Er erledigt für Niles die Drecksarbeit, muss die Eskapaden der Stars ausbaden und Skandale abwenden. Die fieseste Szene hat er in der Aufenthaltshalle einer Pferderennbahn. Ein trockener Norman Maine bestellt gerade zur Verwunderung des Barkeepers ein Ginger Ale und begrüßt den PR-Mann, der Scotch ordert. Nach dem Sanatoriumsaufenthalt scheint er stabil zu sein. Libby nutzt die Begegnung als Ventil seiner aufgestauten Verachtung für Norman Maine. Mit seiner schnarrenden Stimme geht er Maine an, nun, da er nichts mehr zurückzuhalten braucht:
„Say listen, I got you out of jams because I had to, it was my job, not because I was your friend. I don’t like you and I never have liked you. Nothing made me happier than to see all those cute little pranks of yours finally catch up with you and land you on your celebrated face!“
Maine verpasst ihm daraufhin einen Fausthieb ins Gesicht, Libby lässt ihn zu Boden gehen. Ein kleiner Tumult, der Maine inmitten einer Menschentraube als Loser dastehen lässt – er schleicht zur Bar zurück: doppelter Scotch, die Flasche könne gleich dableiben.
In ihrer exklusiven Malibu-Villa geht Vicki Lester auf und ab, Norman ist seit vier Tagen spurlos verschwunden. Dann klingelt das Telefon, Maine ist im Nachtgericht, festgenommen wegen Trunkenheit. Lester und Niles nehmen im Gerichtssaal Platz; die Leute, die zusammen mit Maine dem Richter vorgeführt werden, sind allesamt notorische Trunkenbolde, bemitleidenswerte Gossenexistenzen. Die Anschuldigungen werden verlesen: Maine sei betrunken mit seinem Wagen in einen Baum am Sunset Boulevard gebrettert und habe sich der Verhaftung widersetzt. „You’re nothing but an irresponsible drunk“, konstatiert der Richter (Jonathan Hale). Er brummt ihm neunzig Tage Gefängnis auf, aber Vicki Lester schreitet ein und übernimmt die Verantwortung für ihn. Während der Richter sie hinsichtlich der Konsequenzen belehrt, sieht man einen völlig aufgewühlten Maine, der sich bewusst wird, in was für eine Lage er seine Frau gerade gebracht hat und wie sie sich trotzdem für ihn einsetzt. Es ist eine der wenigen Szenen, die Fredric March berührender spielt als 17 Jahre später James Mason in der ansonsten haargenau gleichen Szene. Als Lester ihn kurz darauf am Gefängnistor abholt, sind die Paparazzi schon zur Stelle – die Titelseite der Zeitung berichtet vom „Night court drama“ – William Wellman, dem Regisseur und Drehbuchautor selbst, sei dies angeblich widerfahren.
Von seinem Bett aus hört Maine anschließend ein Gespräch zwischen seiner Frau und Niles mit. Sie will für ihn ihre Karriere aufgeben, um für ihn da sein zu können. „Then there’ll be no more … Vicki Lester“, sagt sie mit Tränen in den Augen – eine unmittelbare Anspielung auf die Beziehung von Frank Fay und Barbara Stanwyck. Nachdem Niles gegangen ist, tritt Maine ihr im Bademantel gegenüber. Sie scherzen, eine romantische Szene, großes Potenzial für ein Happy End. Aber als sie sich umarmen, weiß man durch die ergriffene Mimik des Fredric March im Close-up eigentlich sofort, dass es nicht gut ausgehen wird. Ein Gegenschnitt zeigt, wohin er blickt: auf den in das Abendrot getauchten Pazifik. Kurz bevor Vicki den Raum verlässt, ruft Norman: „Hey! Do you mind if I take just … one more look?“ – einer der zentralen Sätze des „A Star Is Born“-Kosmos („I just wanted to hear you speak again, that’s all“, sagte Max Carey kurz vor seinem Selbstmord in „What Price Hollywood?“ zu Mary Evans). Dann geht Maine hinaus – der Strand ist nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt –, schreitet hinein ins Meer und schwimmt der untergehenden Sonne entgegen, seine im Sand abgelegte Kleidung wird weggespült.
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