Als sie es endlich schaffte, in den rechten Fuß des Viehs zu stechen, brachte Melina es durch einen tiefen Schnitt auf der anderen Seite in Höhe des Knies zu Fall. Die Krieger und die beiden Frauen beeilten sich, das Ungetüm mit Seilen am Boden festzubinden, ehe einer der Krieger den letzten Schwerthieb ausführte. Der gesamte Körper zuckte noch einen Augenblick, dann war außer dem schweren Atmen der Kämpfenden und dem Weinen der Kinder nichts mehr zu hören.
Von den Waldnymphenkriegern waren noch zwei übrig geblieben. Neben ihnen stand ein Mann, der anders gekleidet und auch größer und kräftiger war als die Bewohner des Waldes. Celeste versuchte gerade wieder zu Atem zu kommen, als einer der beiden jungen Männer vortrat und ihr und Melina einen scharfen Blick zuwarf.
„Was macht ihr in unserem Territorium?“
„Wie kannst du es …“ Zu mehr kam Melina nicht, denn Celeste ergriff die Bergnymphenprinzessin an der Hüfte und verhinderte so, dass der Krieger Bekanntschaft mit ihrer Klinge machte. Waldnymphen sahen mitunter wunderschön und arglos aus, aber sie waren gnadenlos und rachsüchtig, wenn es darauf ankam.
„Mein Name ist Celeste, ich bin eine Dunkle. Meine Freundin begleitet mich auf dem Weg zum Tempel. Wir haben bemerkt, dass ihr in Schwierigkeiten steckt, und sind daher zu Hilfe gekommen.“
Sie sah, wie der Krieger, der zuvor das Wort an sie gerichtet hatte, merklich mit den Zähnen knirschte. Doch der andere, der noch ein paar Jahre jünger aussah als die anderen, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Diese Geste wirkte anscheinend, denn beide Krieger neigten den Kopf zum Zeichen der Dankbarkeit.
Der andere Mann hatte bisher noch kein Wort gesprochen, ließ sie aber nicht aus den Augen. Doch zu Celestes Erstaunen liefen die beiden Krieger nun zu den Frauen und Kindern, sprachen ein paar leise Worte mit ihnen, ehe sie prall gefüllte Taschen schulterten.
„Was ist mit euren toten Kriegern?“, fragte sie aus einem Reflex heraus. Sie hatte noch nie erlebt, dass eine Nymphe, auch Nymphenkrieger, ihre Verstorbenen zurückließen.
„Wir haben keine Zeit. Unser Auftrag lautet, den Wald zu evakuieren und die letzten Bewohner in die Baumfestung zu bringen“, antwortete der jüngere Krieger.
Die Baumfestung war das Refugium des Königs und seiner Leibgarde. Celeste war nicht bekannt, dass er jemals sein Volk zu sich gerufen hatte, und genau dieser Gedanke verursachte ihr regelrecht Magenschmerzen.
„Ihr seid Feiglinge“, spie Melina hocherhobenen Hauptes aus. Die Augen der Krieger sprühten Feuer, doch die Frauen flüsterten das Wort Prinzessin, sodass sich die Männer an die Etikette erinnern mussten.
„Auf allen Kontinenten gehen die Nachrichten von vermehrten Monsterangriffen umher, doch ihr versteckt euch lieber, anstatt euer Wissen mit euren Brüdern und Schwestern zu teilen. Stattdessen missachtet ihr das Opfer eurer gefallenen Krieger. Allein, dass euch ein Chimäre begleitet, sagt mir, dass ihr schon Söldner anheuert, weil eure Angst euch dazu zwingt, euren Stolz zu vergessen.“
Celeste wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort der Waldnymphen, doch sie sahen Melina nur voller Verachtung an, ehe sie einfach an ihnen vorbeigingen. Dabei konnte sie etliche Verletzungen erkennen, die eigentlich hätten versorgt werden müssen. Der Chimäre, den Melina zu kennen schien, blieb noch stehen und beobachtete alles um sie herum ganz genau. Seine Augen waren von einem strahlenden Gelb, wobei seine etwas zu langen Haare so dunkel wie die Baumrinde hinter ihm waren.
„Elhan?“, sagte Melina leise, so dass die Krieger sie nicht hören konnten.
Doch der Mann schwieg und sah Melina nur durchdringend an. Als die kleine Gruppe nicht mehr zu sehen war, verschwand auch er im Dickicht des Waldes. Melina sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher. Celeste ließ sich ächzend auf einen umgefallenen Baumstamm sinken, was ihr Melinas Aufmerksamkeit zurückbrachte.
„Wie geht es dir?“
„So weit ganz gut. Diesmal habe ich nichts abbekommen.“ Nachdenklich schaute sie auf die Leichen der drei Krieger hinunter.
„Wir können sie nicht einfach so hier liegen lassen“, sagte Celeste, während sich ihre Freundin neben sie setzte.
„Nein, das können wir nicht.“
Celeste warf Melina einen fragenden Seitenblick zu, ehe sie fragte: „Woher kennst du diesen Elhan. Ich hätte nicht sagen können, dass er ein Chimäre ist. Diese Mischwesen wissen, wie sie sich unauffällig verhalten können. Es ist das erste Mal, dass ich die legendäre Kampfkunst dieser Wesen aus erster Hand sehen konnte.“
Melina seufzte laut auf. „Das ist eine lange Geschichte. Er ist mir einmal zu Hilfe gekommen, als ich in einen Hinterhalt geraten bin. Er verwandelt sich in einen Bären, doch nur, wenn es unbedingt notwendig ist. Ich schulde ihm etwas, das ist der Grund, warum es ihm erlaubt ist, sich in unserem Gebiet aufzuhalten. Doch wenn er von den Waldnymphen angeheuert wurde, dann bedeutet das nichts Gutes.“
Celeste lachte trocken auf. „Du hast die Krieger ganz schön gereizt. Normalerweise hättet ihr euch bis aufs Blut bekämpft. Ich hätte vorher nicht gedacht, dass es mir mal mehr Angst macht, wenn ihr es nicht tut.“
„Das war meine Absicht. Ich wollte sehen, ob sie darauf eingehen. Und trotzdem sind meine Worte wahr. Sie sind Feiglinge, die lieber zuerst sich in Sicherheit bringen, ohne den anderen Stämmen Bescheid zu geben.“
„Lass uns am besten die Krieger beerdigen, und dann sollten wir weiterziehen.“
Melina nickte, sagte aber: „Wir können sie nicht einfach so unter die Erde bringen. Sie sind Geschöpfte des Waldes.“
Schweigend sah Celeste zu, wie sich die Bergnymphe auf den Boden setzte, ihre Beine übereinanderschlug und die Augen schloss. Normalweise würde eine Nymphe solch ein Ritual vor den Augen eines Menschen oder eines Dunklen nie durchführen. Wieder einmal verspürte Celeste eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass Melina sie an so etwas teilhaben ließ. Die Seelen der Krieger waren bereits aus den Körpern gefahren. Was übrig blieb, war eine leere Hülle. Es gab unter den Dunklen eine Eliteeinheit, die sich um die Seelen derer kümmerten, die in dieser Welt starben. Sie würden dafür sorgen, dass die Krieger wiedergeboren werden konnten.
Celeste spürte, wie Wind aufkam und die Blätter um sie herum zum Rascheln brachte. In der Luft waren die leisen Töne einer Harfe zu hören. Melinas Macht entfaltete sich. Auch wenn sie nicht als Waldnymphe geboren wurde, konnte sie doch an uralte Rituale anknüpfen.
Leises Lachen drang an ihre Ohren. Durch die herabfallenden Sonnenstrahlen sah der Moment noch magischer aus, als sich Wesen aus den Bäumen lösten. Auch wenn Celeste noch keine Dryade gesehen hatte, wusste sie, dass es diese Baumgeister gab. Sie waren mit den Nymphen verwandt, doch zogen sie es vor, lieber im Verborgenen zu leben.
Drei Frauen lösten sich von den Bäumen. Statt Händen wiesen sie Wurzeln auf, mit denen jede der Dryaden einen der gefallenen Krieger umschlang. Langsam zogen sie die reglosen Körper über den Boden, ehe sie sie fast schon liebevoll in die Arme schlossen.
Melina hielt noch immer ihre Augen geschlossen, doch Celeste sog den Anblick regelrecht in sich ein. Rückwärts bewegten sich die magischen Wesen zu ihren Bäumen zurück, aus denen sie gekommen waren. Nach und nach verschmolzen sie wieder mit den Stämmen, wobei die Krieger zusammen mit ihnen verschwanden. Sie waren schon nicht mehr zu sehen, da erklang noch einmal das glockenhelle Lachen, dann war es wieder ruhig. Melina beendete ihre Magie, dann öffnete sie ihre Augen.
Wie gebannt starrte Celeste ihre Freundin an. Das Blau ihrer Augen war nun noch dunkler und sie hätte schwören können, dass sie Sterne in ihnen erkannte. Eine bleierne Müdigkeit ergriff von ihr Besitz. Mit den Händen hielt sie sich an dem Baumstamm fest, auf dem sie saß.
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