„Ist das der Grund, warum du den Berg verlassen hast?“, fragte Celeste. Jeder Fremde hätte Melina sofort als Prinzessin der Bergnymphen erkannt.
Wie all ihre Stammesangehörigen trug sie ihr mitternachtsschwarzes Haar lang. Einzelne weiße Federn ihres Reittieres waren kunstvoll eingebunden worden. Ihre Kleidung bestand aus einem Material, das selbst den schärfsten Klingen, Pfeilspitzen und Klauen standhalten konnte. Auch hier waren die Farben Schwarz und Weiß kunstvoll vertreten. Doch Celeste hatte schon immer Melinas Augen als am auffälligsten empfunden. Die Nymphen besaßen größere Augen als die normalen Menschen und Dunklen, doch Melinas Augen hatten die Farbe des tiefsten Ozeans, was eine Seltenheit darstellte.
„Uns erreichten Meldungen in ganz Edrè, dass die Berge, Wälder und Gewässer vermehrt von Monstern angegriffen werden. Eigentlich war ich auf dem Weg zu dir, um in Erfahrung zu bringen, ob ihr Dunklen etwas darüber wisst.“
Celeste schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mehr als ihr, denke ich.“
„Und was machst du im Gebiet der Waldnymphen?“, fragte Melina.
„Ich war auf dem Weg zum heiligen Tempel.“
Die Nymphe lachte laut auf und warf dabei schwungvoll ihre Haare über die Schulter. „Was für ein Zufall, denkst du jetzt bestimmt.“
Ein Kribbeln in ihrem Nacken ließen daran allerdings Zweifel in Celeste aufkommen. Deshalb antwortete sie: „Nein, diesmal gebe ich dir recht. Ich denke nicht, dass das ein Zufall ist.“
Aus Melinas Gesicht verschwand das Lachen und nun sah Celeste sich einer ernsthaft besorgten Nymphe gegenüber stehen. Normalerweise waren Nymphen eher Wesen, die nach dem Kopf entschieden. Doch Melina war auch in dieser Sicht anders. Sie vertraute ihrem Gefühl. Und sie gab nichts auf Zufälle. Alles hatte einen Sinn, das war ihre Einstellung.
„Wenn du mal einer Meinung mit mir bist, dann liegt etwas im Argen. Was ist los? Warum reist du zum Tempel? Dir ist doch klar, dass deine Weisen dich nicht einmal in die Nähe ihrer Heiligtümer kommen lassen.“ Melinas Stimme hatte einen missbilligenden Tonfall angenommen, was Celeste ihr nicht verdenken konnten.
Das, was bei den Nymphen ein Dekan war, war bei den Dunklen ein Weiser. Es gab sie überall, doch diejenigen, die die Tempel in allen Ländern überwachten, besaßen Macht. Was wiederum dazu führte, dass sie sich aussuchten, wer mit den Göttern in Kontakt kommen durfte. Die Nymphen und die Weisen waren seit jeher Gegner, wenn es um die Frage der Huldigung für die Götter und das Teilen von Wissen ging. Nymphen glaubten weniger an Götter als vielmehr an die Magie der Natur.
Also erzählte sie Melina in kurzen Worten von ihrer Begegnung mit ihrer Tante Thalia und der Weisen Danae, die ihr half. Währenddessen gab die Nymphe ihr eine Salbe, die sie sich behutsam auf die Flecken schmierte, die sich bereits auf ihrer Haut abzeichneten. Dass Melina sie nicht einmal bei ihrer Erzählung unterbrach, sagte ihr, wie ernst die Lage wirklich war. Und das ungute Gefühl in ihrem Magen kehrte zurück.
Celeste beobachtete Melina nervös, während sie ihren Adler aus der Hand fütterte. „Ist es die gleiche Spur?“, fragte sie schließlich.
Die Nymphe hockte auf dem Waldboden und starrte Spuren an, die für Celeste kaum wahrnehmbar waren. „Ja, die Waldnymphen sind in Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten hier entlanggereist.“
Das Monster, das Celeste angegriffen hatte, ließen sie gefesselt zurück, in der Hoffnung, dass die Bewohner des Waldes es bald fanden. Sie war nicht bereit, ihre Hände mit dem Tod des Ungetüms zu beschmutzen.
„Wenn sie auf der Flucht sind, hätten sie dann keinem anderen Nymphenstamm Bescheid gesagt?“
Melina schüttelte den Kopf. „Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, ob sie denken, dass eine Gefahr nur ortsbezogen besteht oder nicht. Wenn sie überrascht wurden oder ihr Dekan entschieden hat, dass sie sich zurückziehen sollten, weil nur der Wald angegriffen wurde, dann wären sie zuerst geflohen. Alles andere lässt sich regeln, wenn sie in Sicherheit sind.“
Besorgt schaute Celeste in den Himmel. Hunderte Fragen schossen ihr durch den Kopf.
„Überlegst du, ob du umkehrst und den Dunklen Bericht erstattest?“
Celeste seufzte. Ihre Freundin kannte sie anscheinend viel zu gut, wenn sie so einfach zu lesen war. „Ja, ich sollte berichten, was ich gesehen habe.“
„Aber?“
„Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich zum Tempel reisen muss. Es ist eine leise Ahnung, die ich nicht genau beschreiben kann. Meine Tante genießt keinen allzu glaubwürdigen Ruf. Wenn es stimmt, was sie sagt, muss ich Beweise finden. Ansonsten werden die großen Häuser nicht zuhören.“
„Der Weg durch den Wald dauert noch etwa einen Tag. Ophir wartet an der Grenze des Waldes auf mich.“ Ophir war Melinas geflügelter Berglöwe. „Ich werde dich zum Tempel begleiten.“
Dankbar lächelte Celeste ihre Freundin an. Insgeheim hatte sie gehofft, die Nymphe zu treffen, ehe sie sich überlegen musste, wie sie zum Tempel gelangen konnte, ohne Aufsehen zu erregen.
„Deinem Bruder wird das gar nicht gefallen“, antwortete Celeste lächelnd.
Melina schnaubte abfällig. „Mein Bruder ist zu sehr damit beschäftigt, sich um politische Angelegenheiten zu kümmern. Wenn wir Glück haben, finden wir weitere Spuren der Waldnymphen. So kann ich später wiederkommen. Es muss einen wichtigen Grund geben, warum sie in Gruppen reisten.“
Celeste nickte. Nymphenkrieger waren Einzelgänger. Sie durchstreiften ihr Gebiet und hatten die Gabe, ihren Feind hinterrücks zu überraschen. Nur wenn sie in den Krieg zogen oder zu ihren Familien zurückkehrten, nahmen sie am Gemeinschaftsleben teil. Doch Melina hatte Spuren von mehreren Kriegern gefunden, die eine Gruppe begleitete, die nicht aus Kriegern bestand. Bei der letzten Spur hatten sie ein kleines Stofftier gefunden, das einem Kind gehört haben muss.
Azia hörte die Geräusche zuerst und übermittelte Celeste ein ungutes Gefühl. Als diese alarmiert aufstand, flog der Adler davon, um einen besseren Überblick zu bekommen. Sie folgte ihm mit ihrem Blick, den Körper angespannt und ihren Geist offen haltend. Melina ließ ihr Zeit, doch dann drangen die Geräusche der Zerstörung auch zu ihnen vor.
„Ein weiteres Monster?“
Celeste nickte, als Azia Melinas Verdacht bestätigte. „Ja.“ Während sie die Bilder ihres Adlers empfing, stockte ihr der Atem. In einer einzigen fließenden Bewegung ergriff sie ihre Habseligkeiten und sprintete los. Ihre Verletzungen schmerzten noch immer, doch Melinas Salbe half bei der schnellen Heilung.
Ihre Freundin folgte ihr, ohne eine Frage zu stellen. In halsbrecherischem Tempo jagten sie durch das Unterholz, während die Kampfgeräusche immer lauter wurden. Und Celeste betete, dass sie nicht zu spät kamen.
Als sie den ersten Waldnymphenkrieger sah, musste sie sich auch schon vor einer riesigen Klaue ducken, die wild um sich schlug. Das zweite Monster, das ihr in diesem Wald begegnete, war fast doppelt so groß wie das erste und noch viel hässlicher. Der Kopf war kahl und ganze vier Augen waren rundherum verteilt. Der massige Körper zerschlug Jahrtausende alte Bäume, als wären sie kleine Streichhölzer.
Doch was Celeste das Blut in den Adern gefrieren ließ, waren die drei toten Krieger am Boden und eine Gruppe von Frauen und Kindern der Waldnymphen, die sich ängstlich in einem Flussbach zusammenkauerten.
Sowohl Melina als auch Celeste zückten ihre Schwerter und kamen den verbliebenden Kämpfenden zu Hilfe. Der Wind trug den Geruch nach Eisen zu ihnen, was den beiden Frauen verriet, dass schon zu viel Blut geflossen war. Sie riskierte einen kurzen Blickwechsel mit einem der Krieger, dann konzentrierte sie sich ganz und gar auf das Monster. Ohne ihre eigenen Kräfte fühlte sich Celeste fast hilflos. Ihr Schwert schlug immer wieder auf das Monster ein, während ihr der Schweiß über die Stirn und den Rücken hinunterlief.
Читать дальше