Sie schlug mit der Hand gegen die Wand. Dabei fiel der Brief auf den Boden. Ally war so wütend, vor allem auf sich selbst. Was hatte sie nun schon wieder falsch gemacht? War sie wieder einmal zu schüchtern gewesen? Ally konnte es nicht genau sagen. Aber es schien ihr, als würde sich bei einem Vorstellungsgespräch jedes Wort aus ihrem Mund vollkommen dumm anhören. Als würde man ihr ihre Ängste an der Nasenspitze ansehen. Und dann wusste sie auch nie, was sie sagen sollte. Kein Wunder also, dass sie niemand einstellen wollte.
Alyssa, so ihr richtiger Name, konnte es einfach nicht verstehen, dass ihr nichts so recht gelingen wollte. Zuerst hatte sie ihre Matura mehr schlecht als recht gemacht und dann auch noch ihr Informatikstudium abgebrochen, weil sie die Programmiersprachen einfach nicht verstanden hatte. Und jetzt schaffte sie es einfach nicht, einen Job zu finden. Sie kam sich wie eine Versagerin vor. Nichts hielt sie auf dieser Welt. Insbesondere nachdem sie vor wenigen Wochen aus der Wohngemeinschaft mit ihrer besten Freundin ausziehen musste. Jetzt war sie nur noch alleine.
Ally hatte genau zwei Freunde: ihre beste Freundin Mira, welche vor kurzem mit ihrem Freund Patrick zusammengezogen war und an der Uni Medizin studierte, und ihre ältere Schwester Sira, die vor einigen Jahren ihren langjährigen Freund Hannes geheiratet hatte und als Kellnerin arbeitete. Beide hatten neben Uni und Arbeit nicht wirklich Zeit, sich mit ihr zu treffen. Mira hatte schrecklich viel zu lernen und auch noch ihren Nebenjob. Sira hatte solche Arbeitszeiten, dass sie immer dann arbeitete, wenn Ally gerade Zeit hatte.
Da es Alyssa nun aber schrecklich schwerfiel, neue Leute kennenzulernen, hatte sie es bisher nicht geschafft, sich mit den Leuten aus ihrem Kirchenchor oder dem AMS-Kurs, zudem man sie verdonnert hatte, anzufreunden. Der Chor war das einzige Hobby, das Ally in letzter Zeit wirklich Freude machte. Er war der einzige Lichtblick in ihrer düsteren und stillen Welt. Der Grund, warum sie trotz allem noch jeden Tag das Bett verließ, obwohl alles nicht wirklich etwas zu bringen schien. Sie liebte es, dort zu sein und zu singen. Niemand achtete speziell auf sie. Ally konnte in der Menge untergehen und war frei, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Selbst wenn ihr gewisse Kirchenlieder nicht so zusagten, war sie doch während des Singens frei von ihren Ängsten. Doch sobald ein Lied zu Ende war, kehrten sie immer wieder zurück.
Nur schien dieser Lichtblick nicht mehr den gewünschten Effekt zu haben. Ally hatte einen Knoten in der Brust, welcher sie gefangen hielt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie starrte auf den Brief, der am Boden lag.
„Ich will nicht mehr“, flüsterte sie leise. Schon öfters hatte sie solche Gedanken gehabt. Das Leben hatte keinen Reiz mehr. Ally hatte einfach genug. Sie wollte sich nicht mehr mit ihren dummen Ängsten herumschlagen. Sie wollte nicht mehr schüchtern sein. Sie wollte endlich frei sein.
Alyssa stieß sich von der Wand ab und ging in die Wohnküche. An der einen Wand rechts neben der Tür befand sich eine kleine Küchenzeile. Es war noch dieselbe Unordnung vorhanden, welche sie zurückgelassen hatte. Das Geschirr stapelte sich in der Spüle, aber Ally kümmerte sich nicht darum. Sie öffnete den hohen Schrank am rechten Rand der Küchenzeile. Ganz oben, im obersten Fach, war genau das, wonach sie suchte: Dort stand eine Flasche mit einer klaren alkoholischen Flüssigkeit und ein kleines weißen Plastiksäckchen. In den letzten Wochen hatte sie begonnen, diese Dinge in diesem Schrank zu lagern. Angefangen hatte es mit einer kleinen Packung Schmerztabletten. Zuerst hatte sie die Tabletten nur wegen ihren Menstruationsbeschwerden gebraucht, aber wenige Tage später hatte sie eine weitere Schachtel mitgebracht. Da hatte sie sich dann gefragt, ob man daran sterben würde, wenn man genug von diesen Tabletten mit einer Flasche Alkohol hinunterspülen würde. Ally hat auch versucht, im Internet eine Antwort auf diese Frage zu finden, aber sie war nicht wirklich darauf gekommen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur die falschen Suchbegriffe verwendet, aber es war ihr egal. Mit der dritten Packung Tabletten wurde ihr klar, dass sie es auf einen Versuch angekommen lassen würde. Da Ally nicht wusste, wie viele Tabletten sie brauchen würde, hatte sie nun schon fünf Päckchen bei sich. Die Flasche Wodka war erst vor wenigen Tagen dazu gekommen. Bisher hatte sie sich nicht getraut, tatsächlich ein paar der Tabletten zu nehmen.
Die drückende Einsamkeit, der fehlende Sinn in ihrem Leben und heute die wohl dutzendste Absage hatten den Ausschlag gegeben, ihre Pläne umzusetzen. Ally nahm die beiden Dinge aus dem Schrank und schloss die Tür mit einem leichten Tritt. Sie ließ das Säckchen auf den Couchtisch am anderen Ende des Raumes unter dem großen Fenster fallen. Dabei purzelten ein paar Päckchen heraus. Die Flasche stellte sie daneben. Sonst lag nur die Fernbedienung des Fernseher auf dem einfachen weißen Tischchen. Bevor Ally sich auf das schwarze Sofa hinter dem Tisch fallen ließ, holte sie noch ein weißes Blatt Papier und einen Stift aus der Kommode gegenüber, auf der auch der Fernseher stand. Mit fahrigen Bewegungen setzte sie den Stift auf das Papier. Sie hatte sich in den letzten Wochen immer wieder überlegt, was sie denn in ihren Abschiedsbrief schreiben wollte. Letztendlich hatte sie sich für ein paar kurze Abschiedsworte entschieden. Mit zitternden Händen und Tränen in den Augen schrieb Ally ihre letzten Worte.
Es tut mir leid, aber es gibt in dieser Welt keinen Platz für mich. Ich werde euch sehr vermissen. Hab euch lieb!
Dieser Brief richtete sich an ihre Eltern, ihre Schwester und ihre beste Freundin. Ally wollte sich gar nicht vorstellen, wie ihre Eltern reagieren würden, wenn sie davon erfahren würden. Sie wusste auch nicht, wie lange es dauern würde, bis man merken würde, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Aber in diesem Moment war ihr alles egal. Sie war einsam und allein. Es gab vielleicht ein paar Leute, welche sie vermissen würde, aber es gab niemanden, der sie wirklich brauchte.
Ally seufzte schwer und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann fing sie an, die Tabletten aus den Päckchen zu drücken.
Es tat ihr leid, dass sie ihre Freunde und Familie nicht noch ein letztes Mal gesehen hatte, aber dazu war keine Zeit gewesen. Sie hatte versucht, eine Verabredung mit Sira und Mira zu treffen, aber sie waren zu keinem Termin gekommen. Immer war etwas dazwischengekommen. Ihre Eltern konnte sie leider nicht besuchen, da sie keine Möglichkeit und Zeit gehabt hatte, nach Kärnten zu fahren. Seit sie nach dem Schulabschluss mit Mira zusammen nach Wien gezogen war um zu studieren, sah sie ihre Eltern nur mehr selten. Aber sie hatte ihre Mutter gestern Abend noch angerufen und sich nach ihrem Befinden erkundigt. Zu Hause ging es allen gut. Im familieneigenen Gasthaus gab es keine Probleme. Ally hoffte, dass es so bleiben würde.
Es passierte, als Ally gerade den Verschluss der Flasche öffnen wollte. Plötzlich war sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung. Zwei Frauen standen mitten in ihrer Wohnküche. Es schien ihnen nicht merkwürdig vorzukommen, in einer fremden Wohnung aufzutauchen. Ally aber zuckte zusammen, die Flasche rutschte aus ihrer Hand und zerschellte klirrend auf dem Boden. Dabei spritzte der Inhalt in alle Richtungen. Allys Hose war ganz feucht. Der Wodka breitete sich unter dem Sofa und dem Tisch ganz langsam aus. Der Geruch von Alkohol lag in der Luft. Aber all das war im Moment nicht wichtig. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie zitterte leicht vor Angst und starrte die beiden Frauen an, welche sich kaum voneinander unterschieden: Beide hatten lange silbergraue Haare und trugen lange wallende weiße Gewänder. Sie schienen Zwillinge zu sein.
„Wer sind Sie?“, brachte Ally mühsam hervor. Die beiden Frauen lächelten Ally freundlich an.
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