Ali zeigte sich überrascht, als Frieder ihm sagte, dass er selbst nicht im Apartment wohnte und die Wohnung im Leerstand bald verkauft werden würde.
»Das Apartment wird nicht verkauft! Ich werde eine Zeit lang dort bleiben«, entgegnete Ali ihm auf der Fahrt zum Bordell, als sie dem Taxi folgten. Frieder widersprach nicht, nickte nur, weil sein Widerspruch zwecklos gewesen wäre.
Frieder mochte den an der Theke wartenden Gottlieb Schwarz vielleicht bereits eine halbe Stunde beobachtet haben, als er meinte, eine kleine Veränderung des Geschehens zu bemerken. Gottlieb Schwarz schien sich mit irgendeinem anderen als den Wirt zu unterhalten. Von einer Dame aber, die sich im Besonderen und dem Klischee einer Edelprostituierten entsprechend vom üblichen Publikum abhob, war jedoch nichts zu sehen. Auch blieb der kleine Abstandskreis der übrigen Gäste um Dr. Schwarz unberührt. Dennoch, seine Lippen bewegten sich und waren umspielt von einer leichten, erwartungsfrohen Mimik. Seine Körperhaltung schien offener und bereit, Nähe zuzulassen. Er öffnete den oberen Knopf seines eleganten Cashmeremantels, um in der Innentasche nach dem Portemonnaie zu greifen. Dabei sah Frieder für einen kurzen Moment ein hautenges, Lack schimmerndes Lederhemd auf Gottlieb Schwarz Brust hervorscheinen. Der Ministerialdirektor zahlte, knöpfte seinen Mantel wieder bis unters Kinn zu und bewegte sich wie ein Geist das Gedränge der Leute teilend auf die Spielautomaten nahe am Eingangsbereich des Lokals zu. Im ständigen Kommen und Gehen der Gäste konnte Frieder dieser hagere junge Kerl mit aschfahlem pockennarbigen Gesicht nicht aufgefallen sein. Der junge Mann stand nun an einem der Spielautomaten angelehnt und sah Dr. Schwarz mit ausdrucksloser Mine auf sich zu kommen. Auch seine Lippen bewegten sich. Dr. Schwarz tippte dem Jungen, der vielleicht 18-jährig, doch sicher keine zwanzig war, unauffällig und doch sanft an die Hüfte als Anstoß, ihm zu folgen. Das Paar verließ die Döner-Stube, ohne dass irgendeiner der übrigen Gäste davon Notiz zu nehmen schien, und entschwand die Straße hinunter in der Dunkelheit.
Ali, der den Moment der Verwunderung in Frieders Gesicht wahrgenommen und dann alles über die Schulter gewandt mitbeobachtet hatte, stand auf und verließ geradewegs das Lokal, ohne ein Wort zu verlieren. Frieder sah Ali hinüber auf die andere Straßenseite gehen, so als wollte der Ägypter das Bordell erneut besuchen, doch dann bog er ab und ging ebenfalls die Straße hinunter. Frieder wartete eine Weile, weil er überlegte, wie er Gottlieb Schwarz und wie er Ali verstehen sollte. Ali, so begriff es Frieder, hatte wohl einen kleinen Spalt entdeckt, wo er das Brecheisen anzusetzen gedachte, um in sein neues Leben einzubrechen. Mit dieser Ahnung kamen Angst und Verzweiflung. Am besten wäre es, dachte er, wenn er auf der Stelle jede Bemühung um den Neuanfang aufgäbe, sich sofort in einen Zug, besser noch in ein Flugzeug setzte, mit einem Ziel ganz egal wohin. Er wollte plötzlich nur unendlich weit weg von hier, von Deutschland, Europa und von Ägypten und sich eine völlig neue Existenz aufbauen, ohne zu wissen, wie oder wo. Er brauchte einen neuen falschen Namen und abermals eine frei erfundene Legende, und wenn es nicht anders ginge, dann auch als Schuhputzer in Kalkutta. Alles war bereits fehlgelaufen, noch ehe sein Neuanfang richtig in Gang käme. Frieder war ein Mensch, den Existenzangst nur selten geplagt hatte. Nun jedoch spürte er den für ihn noch unbekannten und anhaltenden Druck, vollkommen auf sich alleine gestellt zu sein, ohne die Sicherheit einer hilfreichen Vorarbeit des Staatssicherheitsdienstes und ohne die schützende Hand seines einflussreichen Schwiegervaters. Frieder verstand, dass er mit Mitte vierzig und ohne Kontakte nicht wieder alle Chancen bekäme, um von Neuem ein anspruchsvolles und gesichertes Leben anzufangen. Daran änderte auch das ganze Geld und Vermögen nichts, das er über viele Jahre auf einem Schweizer Nummernkonto beiseite gebracht hatte. Die Ruhe und Sicherheit eines geschützten Bürgerlebens nicht zu leben, sondern nur zu erkaufen, bliebe für ihn weitgehend nur die Fortsetzung einer zunehmend quälenden Furcht vor Entlarvung und Strafverfolgung. Er wollte nicht wieder in die Illegalität zurückgeworfen werden, die ihm zwar am Ende beträchtlichen Wohlstand, jedoch keine Zufriedenheit eingebracht hatte. Frieder begriff, dass ihm bis auf Weiteres nichts anderes übrig bliebe, als mitzuspielen. Ali forderte ihn heraus, und Frieder ginge darauf bis an die Grenze des Erträglichen und des Wiederumkehrbaren ein. Ministerialdirektor Dr. Gottlieb Schwarz hatte für ihn nicht mehr und nicht weniger als nur ein Vorgesetzter zu sein, denn was hatte Frieder dessen sonderbares Privat- und Intimleben zu interessieren? Er brauchte doch nur die Ereignisse auf sich zukommen lassen.
Als der Schreck sich legte, begann Frieder daran zu glauben, trotz allem sein neues Leben in den Griff zu bekommen. Er fasste wieder Hoffnung, stand auf, ging zur Theke, um zu zahlen. Dann dachte er zu gehen, doch die blanke Neugier trieb ihn um:
»Was ist mit dem Herrn, der hier noch eben stand? Was ist mit dem Jungen, was haben beide miteinander zu tun?«, fragte er den Wirt. Doch der antwortete nicht, schaute grimmig, und ballte die Faust. Beinahe hätte er Frieder aus seinem Lokal geworfen.
»Das war unser Freund Hein!«, johlte eine versoffene, quäkende Stimme von irgendeinem aus dem Gedränge in Frieders Ohr.
»Das Schwein hat Toni angesteckt!«, scholl es von einem anderen hinter Frieder her, als er auf die Straße trat.
Frieder suchte nach einem Taxi und fand eines an einer Straßenecke zur Einmündung in eine enge, dunkle, mit Müllbehältern und Wohnwagen vollgestellten Gasse. Er nannte dem Fahrer die Adresse seiner Pension, dachte an nichts, war nur müde und ließ sich fahren. Er fuhr vorbei an einem Fotoladen mit eingeschlagener Schaufensterscheibe. Unter dem Giebel des Hauses blinkte und tönte die Alarmanlage.
Die kleine Kora-Lisa, neunjährige Prinzessin der Achmadis und von augenscheinlich sanfter, ängstlicher Wesensart, ließ sich von der resoluten Privatlehrerin noch beeindrucken und blieb an ihrer Hand. Nicht so ihr Bruder, der elfjährige Sylvain, dessen tägliche Ritalin-Dosis seit Kurzem nicht weiter ausreichte, um die zusätzliche und überschäumende Unruhe beginnender Pubertät zu bremsen. In einem Anfall von Jähzorn riss er sich schreiend, schlagend und stauchend von seiner Lehrerin los und stürmte den Landcruiser so gekonnt, dass auch ein kampferprobter Elitekämpfer von ihm noch einiges hätte lernen können. Voller Missmut grub sich Sylvain tief in das Lederpolster der Rückbank ein. Sie hätten ihn ausräuchern müssen, um ihn von dort wieder zu entfernen.
»Ich will mit!«, schrie er, »ich will mit zu Papa!« Aber Sylvain durfte nicht mitkommen. Maria begriff sehr wohl, dass sie ihm dieses Verbot nicht erklären konnte, und er es nicht verstünde, wenn sie es dennoch versuchte. Ein Kindheitstrauma fräße sich in seine Seele. Maria war wütend auf den Fahrer, der in Gegenwart ihrer Kinder den Mund nicht hielt. Sie würde ihn entlassen, ihn vorher jedoch noch richtig fertigmachen. Dass er ihr die Türe zur Beifahrerseite aufhielt, quittierte sie mit einem vernichtenden Blick und statt einzusteigen, schrie sie in den Fond des Wagens:
»Du Scheißkerl kommst aufs Internat!«
In die Psychiatrie wäre besser, dachte Fatima Siniola und war froh, bislang über Familienplanung noch nicht allzu viel nachgedacht zu haben. Doch als Zeugin dieses Zwischenergebnisses wohlbehüteter Erziehung fasste sie auf der Stelle den Entschluss, wenn überhaupt, dann ganz besonders gründlich darüber nachzudenken. Sylvain zeigte, dass er zumindest als Rüpel einen Ruf zur verteidigen hatte. Er spuckte seiner Mutter ins Gesicht und schlug mit einer Wasserflasche so wild umeinander, dass diese am Innendach des Landcruisers in Scherben zerbrach. Vollkommen wie gewollt zerfetzte er dann mit dem scharfkantigen Flaschenhals Sitze und Polster. Er machte den Wagen von innen heraus zu Schrott.
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