Die Tür zum Büro schwang auf. Eine kleine Gruppe asiatischer, vielleicht chinesisch anmutender Geschäftsleute zwängte sich leise murmelnd durch den Türrahmen und füllte im Gefolge zweier Mitarbeiter des Hausherrn das Vorzimmer.
»Herr Dr. Achmadi bittet Sie nun zum Interview«, sagte eher beiläufig einer der beiden Sekretäre und schenkte der Journalistin und ihrem soeben erwachten Begleiter kaum Beachtung. Mit ungleich größerer Aufmerksamkeit versorgte er hingegen die wohl erhofft zukünftigen chinesischen Partner mit allerlei bunten Informationsbroschüren. Diese wussten sich daraufhin ihrerseits mit noch viel bunteren und bestimmt erwartungsvoller werbenden Präsenten zu revanchieren. 'Joint Venture' würde Tom Greenwood ein Foto dieses Kammerspiels untertiteln, ginge es ihn im Moment nur etwas an.
In dem repräsentativer gestalteten Raum kamen die beiden Journalisten und Mohamad Achmadi freundlich aufeinander zu. Sie begrüßten sich geschäftsmäßig, begaben sich zu einer Gruppe schwerer Ledersessel in der Nähe des Balkons und nahmen Platz. Sie einigten sich auf Englisch als Interviewsprache mit Rücksicht auf Tom Greenwood. Fatima Siniola hatte zwar eine tunesische Mutter und nicht das Italienische, sondern das Arabische wäre ihre Muttersprache, wäre sie nicht in Italien, Frankreich und in Deutschland aufgewachsen. Bedingt durch ihren Vater, ein prominenter und erfolgreicher italienischer Fernsehkorrespondent, war sie Italienerin. Die meiste Zeit ihrer Jugend verbrachte sie in Rom. Bis auf Arabisch hätte Tom Greenwood ebenso auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch oder Deutsch mitreden können, was ihm jedoch von keinem der beiden polyglotten anderen zugetraut, und erst recht nicht zugestanden worden wäre. Mohamad Achmadi entschuldigte sich, dass er die Journalisten warten ließ, und dafür, dass ihm für das Interview durch einen dringenden familiären Termin noch am Abend in Luxor unversehens weniger Zeit zur Verfügung stünde. Er wäre dankbar, wenn Fatima Siniola ihm einen Teil der Fragen schriftlich überließe. So hätte er in den nächsten Tagen weiter Gelegenheit, darüber nachzudenken und ihr ausführlichere Antworten zu übersenden. Etwas enttäuscht ging Fatima Siniola auf den Vorschlag ein. Sie bat den Ägypter jedoch, ihr für die Fragen, die ihr besonders am Herzen lagen, wenigstens für eine halbe Stunde Zeit zu finden. Das gäbe ihr die Möglichkeit, für die Leser des Magazins viel von seiner Ausstrahlung und seiner Wesensart authentisch einzufangen. Ihre Bitte konnte und wollte der geschmeichelte Mäzen nicht abschlagen. Die Journalistin erfuhr, dass ihm während seines Studiums in Dresden in den 50er Jahren das Mitspielen in einem Studententheater einen glücklichen und weiten Zugang zum Marxismus geöffnet habe. Von Brecht gelernt zu haben, bedeutete für ihn gleichsam, Kraft getankt zu haben, um über den eigenen Horizont hinauszugehen, die Gesellschaft von anderer Seite zu betrachten, zu erkennen, wie sie ist, um sie zu verändern. Er sei überzeugter Marxist und tiefgläubiger Christ und sähe in einer klassenlosen Gesellschaft und in einem weltweit organisierten Gemeineigentum die beste Antwort auf die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur. Die Journalistin warf ein, dass er doch selbst ein nicht unbedeutender Vertreter des Kapitals sei und sein offenbar großes Vermögen ihm weder vererbt noch wie Manna vom Himmel zugefallen sei. Sie schätze seine Haltung, aber verstehen würde sie diese dennoch nicht. Mohamad Achmadi holte aus: Sie dürfe nicht Marxismus mit Sozialismus verwechseln. Gemeineigentum an Produktionsmitteln sei das Zukunftsideal, nicht die Gegenwart. Das naheliegende, erreichbare Ziel sei durchaus, in Verantwortung um das Gemeinwohl Kapital und Produktion zunächst in die Hände der Besten, der Gebildetsten, der Fähigsten zu legen. Es gäbe überdies noch kein staatliches oder internationales System, dass die weltweite Produktion für eine umfassende und menschenwürdige Bedarfsdeckung lenken könne. Es gäbe noch nicht einmal ein weltweit leistungsfähiges Bildungssystem. Mit der Zerschlagung des Sozialismus nahezu überall auf der Welt durch die scheinbare Überlegenheit westlicher Gesellschaftsformen sei die Chance auf gleiche Bildungschance und existenzielle Grundsicherung der Menschheit vernichtet worden. Der Westen habe einen Pyrrhussieg erzielt und habe anstelle des unterlegenen Sozialismus ein Vakuum erschaffen, das von dem radikalen Islamismus mit dem Zulauf enttäuschter, verarmter und ausgebeuteter Massen nach und nach wieder aufgefüllt werde. Er begreife es mit großer Sorge, wenn folglich immer mehr Menschen, die im Diesseits keine Perspektive fänden, diese eben im Jenseits suchten. Es sei daher geradezu eine Pflicht, mit gesellschaftlicher Bildung für den Wandel ungenügender Verhältnisse in eine gerechtere Welt zu kämpfen. Der radikale Islamismus der Gegenwart hätte ebenso wie der Sozialismus der Sowjetunion bereits seine Untauglichkeit vor allem wegen der Unfähigkeit ihrer geistigen Führer bewiesen. Was seinen vermeintlichen Reichtum beträfe, gäbe es keinen Widerspruch zu seinem gesellschaftlichen und kulturellen Mäzenatentum. Er habe für sich persönlich und für die Familie niemals mehr als 30 Mitarbeiter beschäftigt. Er habe immer hohe Leistungen von seinem Personal abverlangt, es dafür jedoch anständig entlohnt. Er erinnere sich nicht an einen einzigen Fall, bei dem ein Mitarbeiter wegen Unzufriedenheit über die Bezahlung sich von ihm getrennt habe. Er sei vor allem ein erfolgreicher Kaufmann, mit einem offenbar guten Gespür für den Markt. Er und seine Angehörigen pflögen gewiss keinen anmaßend überzogenen und aufwendigen Lebensstil. Kulturelles und soziales Engagement seien für alle Mitglieder der Achmadis nicht nur angetragene Verpflichtung, sondern auch von Herzen bestimmte Lebensaufgabe. Seine beiden Söhne, Karl und Friedrich, verdienten sich als Gelehrte. Karl lehre als Professor für Gefäßchirurgie an der Universität von Kairo. Friedrich forsche als Mathematiker sowie Entwicklungsleiter und Teilhaber an einer Firma für biologische Kybernetik und Analytik in Dublin, Irland. Nach seinem Tod ginge der größte Teil des Geschäftsvermögens in eine Stiftung über. In karitativen und kulturellen Bereichen würde die Stiftung von seiner Frau Anna, den beiden Söhnen sowie von seiner Tochter Maria repräsentiert werden. Fatima Siniola notierte auf einem Block bei laufendem Diktiergerät die sinnzusammenhängenden Stichworte. Sie bekam dabei das ungute Gefühl, weder zum Kern des Themas hinsichtlich der geplanten Theatertournee noch zum persönlichen Wesenszug des Ägypters vorzudringen. Mit politischer Phrasendrescherei, Traumtänzerei und Selbstbeweihräucherung mochte sie sich nicht zufriedenzugeben. Sie ahnte bereits, dass sie auch durch die schriftlich ausgearbeiteten Antworten Achmadis kaum wirklich Bedeutsameres über den Mäzen erführe. Sollte sie die verbleibenden wenigen Minuten nutzen, um schärfer nachzufragen? Der auf Malta einst festgenommene Sohn Achmadis hieß Ali. Warum erwähnte der Industrielle diesen Sohn mit keinem Wort? Es wirkte sonderbar, interessant, fragwürdig, doch leider fiele ihre Nachfrage nach Ali vollkommen aus dem vorab verabredeten Gesprächsrahmen. Tom Greenwood schien nicht an solche Hintergründe zu denken. Er saß nur gelangweilt im Sessel und blickte wiederholt auf die Uhr. Tom hatte es wohl aufgegeben, das festgefahrene, unausgewogene Frage- und Antwortspiel der beiden mitzuverfolgen. Vielleicht war er bereits bei der Assoziation von Achmadis ideologischer Schönfärberei mit John Lennons 'Imagine' hängen geblieben. Es verwunderte einen Althippie wie ihn, wie jemand nicht nur als heroinsüchtiger Popstar sondern auch als harter, profitorientierter Geschäftsmann - und auch als beides - scheinbar im Marxismus ein kleidsames Mäntelchen so einfach fände. Der Bildreporter unterbrach die Konversation, nein, den Monolog des Mäzens, und fragte, ob er für eine bessere Belichtung der Fotos die abgedunkelte Balkontüre einen Spalt weit öffnen dürfe. Natürlich durfte er, doch nach dem zustimmenden Nicken blieb Mohamad Achmadi still. Er war aus dem Konzept gebracht, hatte den Faden verloren und auch die Journalistin wusste nicht so recht, wie nun weiter. So setzten sich beide wortlos, mit gespielt guter Mine in Pose und überließen dem Fotografen die Arbeit. Ein angenehm kühler Luftzug säuselte durch den offenen Balkon in das Büro und kräuselte Fatima Siniolas Kleid weit über ihre Oberschenkel. Mit geschwungener Hand hätte die junge Frau noch so schnell ihre Knie wieder bedecken können, und doch hätte sie damit dem schnellen Blick des alten Herrn nichts verborgen.
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