»Haben Sie Schmerzen? Sie sollten zu einem Arzt«, gab sich Mohamad Achmadi besorgt und bekundete in einer zwanglosen Manier, dass er der Unterhaltung nun eine ganz andere Richtung zu geben gedachte.
»Das Hämatom?«, fragte Fatima Siniola deutlicher verlegen als überrascht. Sie verstand genau, dass Dr. Achmadi genau daraufhin anspielte. »Nein, das ist weder schmerzhaft noch tragisch und wird bald ausgeheilt sein. Es war nur ein kleiner Reitunfall. Mein Pferd hat beim Aufsatteln ausgeschlagen und mich leider unglücklich getroffen. So etwas passiert immer wieder, wenn sich ein neues Pferd an mich und an die Umgebung eines noch fremden Stalls erst noch gewöhnen muss.«
»Sie reiten?«, fragte der Ägypter entzückt. Pferde, Reiten. Damit war mit einem Mal ein neues, ein einziges Gesprächsthema gefunden, und nichts davon würden die Leser des Magazins je erfahren. Angeregt und doch entspannt, ohne Druck und völlig zeitvergessen unterhielten sich Mohamad Achmadi und Fatima Siniola über alles, worin sie diese gemeinsame Leidenschaft teilten. Es vergingen eine halbe Stunde, eine Stunde und eine noch längere Dauer, bis hinein in die Dämmerung. Sie gab sich als eine erfahrene, begeisterte Reiterin, die mit ihren zwei eigenen Holsteiner Pferden, einem Hengst und einem Wallach, an Amateurspringturnieren teilnahm. Sie glänzte als Turnierreiterin, wo immer es die Zeit und ein Wettkampfort irgendwo in Europa zu ließen. Der Mäzen erzählte von seiner Tochter, Maria, die sich der gleichen Leidenschaft hingab. Sie galt ebenfalls als eine erfolgreiche Springreiterin. Sicher wären seine Tochter und Fatima Siniola sich bei dem einen oder anderen Turnier über den Weg gelaufen, ohne wohl aufeinander aufmerksam geworden zu sein. Er war ein besessener Pferdezüchter, vernarrt in Vollblutaraber und Hannoveraner. Bereits der Familienehre halber sollte seine Tochter bei den Turnieren nur mit dem besten Material aufwarten. Er und seine Tochter betrieben ein eigenes Gestüt unweit Luxors. Es wäre eine große Freude für ihn, wenn er auf diesem, wie auch auf jedem weiteren seiner ägyptischen Anwesen, Fatima Siniola bald einmal als Gast empfangen dürfe. Warum nicht schon gleich? Es wäre für ihn eine Ehre, wenn die junge Reiterin seine Gastfreundschaft annähme, ihn noch am Abend auf seinem Privatflug nach Luxor begleiten und Gast im Hause seiner Familie sein wollte. Natürlich brächte nach ihrem geschätzten Aufenthalt eines seiner Flugzeuge sie zurück nach Malta oder Rom, so wie es ihr beliebte und wann immer sie es wünschte. Die Journalistin überlegte kurz und entrückte für einen Moment aus ihrer Schwelgerei. Sie blickte sich nach Tom Greenwood um, der jedoch längst gegangen war. Sie erinnerte sich kaum noch daran, dass, als von draußen noch das Sonnenlicht hereinschien, Tom gefragt hatte, ob er noch gebraucht werden würde und daraufhin mit einem leisen Gruß das Büro verlassen hatte. Sie erinnere sich daran, dass später einer der beiden Sekretäre Kaffee und sehr süßes Gebäck serviert und die Kerzen eines wundervollen Kristallleuchters angesteckt hatte. Dessen warmer, voller Schein nahm dem Raum die Kälte des Geschäftlichen und gab ihm die entspannte Atmosphäre eines Salons. Und sie erinnerte sich daran, dass der alte, sympathische, einnehmende Pferdenarr ihr einige der unglaublich alt gelagerten, sündhaft teuren Cognacs einschenkte, die sie sich in ihrem ganzen Leben niemals würde leisten können. Fatima Siniola ahnte, dass sie bereits seit einigen ausgetrunkenen Kognakgläsern ziemlich betrunken war, zumal sie ihren Redefluss über Pferde, Sport und Reiterei nur noch mit Mühe in Zaum hielt.
»Ja, sehr gerne. Ich nehme Ihre Einladung an, Herr Dr. Achmadi. Ich freue mich darauf, Ihre Tochter persönlich kennenzulernen und morgen vielleicht sogar mit ihr ausreiten zu dürfen«, stimmte Fatima Siniola ihm mit einem von ungespielter Freude umstrahlten Lächeln zu. Genau in diesem Moment, völlig klar und unvernebelt vom Alkohol, sah sich die Journalistin darin bestätigt, dass der Ägypter sie im Grunde für ein dummes Huhn hielt. Die Einladung bedeutete nicht nur eine Verabredung für zwei oder drei Tage pferdesportlichen Miteinanders, sondern öffnete zudem sehr wohl einen Schlupf, um hinter die Fassade der Achmadis zu gelangen. Er schien nicht zu begreifen, dass sie ihr Handwerk eigentlich verstehen sollte. Überdies ritt sie nur gelegentlich, hatte überhaupt keine eigenen Pferde und nahm an Turnieren, wenn überhaupt, nur zuschauend teil. Bis die Achmadis das Trugbild, das sie von sich gezeichnet hatte, bemerkten, wäre sie längst wieder in Rom, um mit einem demaskierenden Bericht über Mohamad Achmadi die Spalten des Magazins zu füllen.
Der Schnellimbiss, eine mit Sitzgelegenheit aufgerüstete türkische Döner-Kebab Bude, war nicht gerade eine Lokalität, wo Graf von Rotz zu speisen pflegt. Schmutziges, abgenutztes Interieur, fettig-klebrige Tische und Geschirr und Besteck von einer Art, der auch ungewaschenen Fingern gerne den Vorzug gegeben werden sollte, waren vom Imbissbetreiber vielleicht nicht ganz ungewollt. Warum sollten Gäste länger zum Verweilen eingeladen sein als für die Zeit, die ausschließlich zum Stillen von Hunger, Durst und für den schnellen Umsatz notwendig ist? Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln übertünchte den Bratendunst mit den so typischen Aromen von Zwiebeln, Knoblauch und von Körperschweiß. Gerade deshalb noch hinterließ das Lokal auf Frieder den Eindruck, dass die behördliche Aufsicht, zu dessen Teil er ab übermorgen zählte, diesen Ort besonderer hygienischer Herausforderung noch nicht völlig aufgegeben hatte. Draußen regnete es und ein kalter böiger Wind tat sein Übriges, um eine Traube von Menschen in den Imbiss zu treiben. Es war überfüllt, verraucht und laut. Jeder, der sich hier umsah, selbst ein von weit her Zugereister, so wie Frieder auch, wüsste recht bald, wo und in welchem Teil der Stadt dieses Lokal seine ureigene Kundschaft anzog. Hier verkehrten Prostituierte aus aller Welt. Viele schienen verbraucht, etliche hysterisch und durch Drogen aufgekratzt, einige durchfroren, andere einfach nur müde. Kein anderer, besserer Ort in einem für sie so fremden Land hätte ihnen eher das Gefühl von Heimat gegeben. Außer der Döner Bude gab es für sie keine andere Wahl und war ihnen als Teil ihrer Arbeit und nicht ihres Traums vom besseren Leben gerade recht. Kleinganoven und Zuhälter schlugen sich die Zeit tot. In der Mehrzahl waren sie wohl einheimisch und Menschen, die hier mit gewissem Erfolg ihr Organisationstalent bewiesen, um Krümel vom großen Rotlichtkuchen abzubekommen, nachdem sie zuvor in bürgerlichen Berufen gescheitert waren. Freier aus eben solcher Bürgerlichkeit füllten den Rest der Bude auf. Sie tranken sich mit billigem Bier und Raki warm, um in den meisten Fällen eher Scham und Nervosität als schlechtes Gewissen und Kälte zu überwinden. Kaum beleuchtet blieb der kleine, schmale Bereich mit den Tischen im schummrigen Dunkel, wo sich die Gesichtszüge von Gästen, die kaum weiter entfernt saßen, nur noch erahnen ließen. Es war so dunkel, dass jeder, der zu Tisch saß und durch die Fensterscheibe schaute, ungeblendet von der Reflexion des inneren Lichtscheins das rege Nachtleben draußen und entlang der Straße gut beobachten konnte. Genau gegenüber der Imbiss-Stube lag eines der Bordelle des Rotlichtviertels. Es zog wie auf einer unglaublich regelmäßigen Perlschnur die Freier an und verschluckte sie in einem aufreizenden, von einer rot-weißen Lichtergirlande umrandeten Eingangsbereich. Zwei grobschlächtige Gestalten standen davor wie auf Wache. Bereits nach weniger als einer halben Stunde spukte das Bordell die allermeisten wahrscheinlich befriedigten Kunden wieder aus. Frieder saß zurückgezogen an einem Eckfenster, das sich als erstbester, weil noch freier Beobachtungsplatz für das Bordell gegenüber angeboten hatte. Er wartete auf Ali bereits deutlich länger als eine Stunde. Frieder würde es nicht überraschen, wenn er noch eine weitere Stunde zu warten hätte. Ali war nicht nur potent wie ein Büffel mit schier unbändiger sexueller Triebgier, sondern hatte auch die Taschen voll Geld. Sein ehemaliger Freund schien gerade alle verfügbaren Damen des Etablissements genüsslich und der Reihe nach durchzuprobieren. Der Taxifahrer, dem sie Geld gaben, damit er sie vorne weg fahrend in ihrem blauen Lieferwagen hierher lotste, hatte ihnen nicht zu viel versprochen. Offensichtlich war er das Geld wert gewesen und hatte zudem für seinen Schlepperdienst vom Bordellbetreiber noch dazu eine recht ansehnliche Provision zu erwarten. Frieder überlegte sich, ob er Alis Einladung, ihn auf seine Rechnung zu begleiten, besser hätte annehmen sollen. Zwar hatte er wegen einer Entzündung keine Lust, doch besser hätte er sich ihr trotz Schmerzen hingegeben, allein um langes stumpfsinniges Warten an diesem so trostlosen Ort zu entgehen. Bei dem Gedanken, nun auf dem warmen Bauch einer Frau zu liegen, bekam seine Lust allmählich auftrieb. Gerade wollte Frieder aufstehen, seine Jacke anziehen und hinübergehen, als ein hochaufgeschossener, gutgekleideter, etwas älterer Mann das Lokal betrat. Der Herr bahnte seinen Weg durch das Gedränge zur Theke. Er bestellte sich ein Bier und besprach etwas mit dem Wirt. Ministerialdirektor Dr. Gottlieb Schwarz. Frieder schien es schlicht unfassbar, ausgerechnet hier seinen zukünftigen Vorgesetzten und Abteilungsleiter im Ministerium anzutreffen. Dr. Schwarz durfte ihn nicht entdecken. Frieder zog sich, statt aufzubrechen, noch tiefer in die Ecke zurück. Er hoffte, dass Dr. Schwarz ihn von der Theke aus nicht sehen würde, solange er dort nur bliebe und sich nicht auf die Suche nach einem freien Sitzplatz begäbe. Frieder erinnerte sich an Arbeitsessen der letzten beiden Jahre, an denen der Ministerialdirektor teilnahm. Da jedoch Jutta das Heft des Forschungsprojektes fest in der Hand hielt, war während dieser Zeit sein Kontakt zu Schwarz nur oberflächlich und auf das Sachliche beschränkt geblieben. So schätzte Frieder den Ministerialdirektor zunächst als freundlich, zurückhaltend und wohlwollend ein. Damit lag er, wie er es im Vorstellungsgespräch vor ungefähr einem Monat besser lernen sollte, völlig falsch. Dr. Schwarz war ein Genickbrecher und gebärdete sich als unerträglicher Moralist. In der Vorstellungsrunde führte er, und scheinbar nur er allein, das Wort, sekundiert bestenfalls noch vom Personalchef. Jutta hingegen saß zahm neben ihm und unternahm nichts, als Dr. Schwarz und der Personalchef im Beisein von Personalratsvertretern und eines Staatssekretärs, der seinen Günstling durchbringen wollte, Frieder ins Kreuzverhör nahmen. Das Fachliche und Wissenschaftliche interessierte sie nicht, und Frieder hatte vergeblich gehofft, mit der für beide Seiten fruchtbaren Zusammenarbeit der vergangenen zwei Jahre zu punkten. Das Forschungsprojekt zur Verbesserung der Resistenz von Nutzgeflügel gegen Stress durch pharmakologische und haltungstechnische Beeinflussung der hormonellen Regulation wurde von der Universität der Landeshauptstadt dem ägyptischen Institut des Dr. Johann Bogart in Auftrag gegeben. Das Projekt wurde von Juttas Abteilung im Ministerium maßgeblich finanziert und federführend betreut sowie von Frieder als Projektleiter und Angestellter des Instituts in Ägypten erfolgreich bearbeitet und zum Abschluss gebracht. Deshalb war es nur naheliegend, dass Frieder im Anschluss daran sein großes Interesse an einer Rückkehr nach Deutschland bekundete. Er bot sich für die frei werdende Stelle im Ministerium als besonders geeignete wissenschaftliche Fachkraft an, welche die Mitarbeiter der Abteilung bereits persönlich kannten und deren Arbeit und Leistungen sie schätzen gelernt haben. Darüber hinaus bestach Frieder mit dem nahezu unschlagbaren Vorteil, Arabisch in Wort und Schrift zu beherrschen, womit außer ihm wohl kein anderer Mitbewerber aufwarten konnte. Aber alles das schien für Schwarz ohne Belang zu sein. Stattdessen stand die persönliche Integrität Frieders auf dem Prüfstand. Dr. Schwarz betonte, und der Staatssekretär nickte ihm zustimmend bei, dass er von jedem seiner Mitarbeiter ein klares Bekenntnis zu den rechtsstaatlichen demokratischen, aber auch zu den christlichen Grundwerten erwarte. Jeder hätte Integrität und Ergebenheit durch feste Verankerung in Familie sowie in ehrenamtlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen wie in gemeinnützigen Vereinigungen, Parteien oder in der Kirche zu beweisen. Der Personalchef schoss nach, dass ihn weltenbummlerisches Abenteurertum weniger beeindrucken würde als die Bereitschaft zur Bodenständigkeit und Unterordnung unter familiäre und gesellschaftliche Bindungen. Bedeutete es dann nicht ein Nachteil, dass der Bewerber als über Vierzigjähriger noch unverheiratet und kinderlos war und offensichtlich keinen familiären oder sozial gefestigten Hintergrund besaß? Frieder hatte das Gefühl, dass die beiden mit solchen Anspielungen auch seine sexuelle Orientierung hinterfragten, aber sich zu einer offeneren Attacke in dieser Richtung dann doch nicht weiter trauten. So schwenkten sie auf den Glauben ein: Kann ein Christ, der für Jahre allein in einem nahezu vollkommen islamischen Land und ohne Kontakt zur Kirche lebt, seinen Glauben bewahren und wie überhaupt beweisen? Frieder konnte auf diese Fragen nicht antworten. Natürlich hatte er eine Familie und war Vater eines elfjährigen Sohns und einer neunjährigen Tochter. Durch seine Lebenserfahrung in einem islamischen Land glaubte er als Christ an Gott genauso, wie er als Moslem an Gott nicht anders glauben würde. Zudem besuchte er zusammen mit seiner Frau nicht immer, so doch gelegentlich die Gottesdienste der koptischen Kirchengemeinde in Luxor und organisierte für deren Festlichkeiten die Bewirtung von Armen. Hinsichtlich seines sozialen Hintergrundes hatte er im Vergleich zu seinen Mitbewerbern bestimmt nicht weniger aufzubieten - jedoch eben nur als Dr. Johann Bogart. Er aber hatte sich als Dr. Friedemann Bronn beworben. Als Friedemann Bronn entsprach sein Werdegang tatsächlich nur dem eines Weltenbummlers. Er hatte noch nicht in die Sozialkassen des Staates eingezahlt und sich noch nicht in irgendeiner Funktion in Gesellschaft, Partei und Kirche eingebracht. Er hatte vorgegeben müssen, noch kinderlos und ledig zu sein. Frieder lag es auf der Zunge, diese Moralapostel mit schlagfertigen Argumenten und stechenden Beweisen seiner moralischen Integrität rückstandslos unter den Tisch zu reden. Das jedoch durfte er nicht, denn nur als Johann Bogart war er integer und hätte dem geforderten Wunschbild entsprochen, zumindest dem Anschein nach. So saß Frieder einsilbig, geradezu wortlos da und musste sich von Dr. Schwarz und dessen Messdiener infrage stellen lassen. Schließlich gab er zum Ende des Vorstellungsgesprächs jede Hoffnung auf die Stelle auf. Sie verabschiedeten ihn kurz und kühl und ohne Händedruck. Doch als Frieder beim Verlassen des Zimmers Jutta ihm mit einem leichten Augenzwinkern zunicken sah, wusste er sicher, dass er und nicht einer seiner Mitbewerber die Zusage erhielte. Für ihn war es noch immer unerklärlich, warum er genommen wurde, nachdem er in ein so schlechtes Licht gerückt worden war.
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