»Ja?«
»Johann?«, fragte eine ihm bekannte, akzentuierte Stimme etwas unsicher in das Rauschen der Leitung und in die Leere Frieders Sprachlosigkeit.
»Johann, ich weiß, dass Du am Apparat bist, ich weiß, wo Du bist und ich werde Dich finden, wo immer Du Dich verstecken wirst!« Dann folgte eine Pause und es herrschte nur ein Rauschen.
»Johann?«, bohrte die Stimme nach.
»Ja!« Mehr vermochte Frieder nicht hervorzubringen, denn die Luft blieb ihm weg. Er wankte und viel vornüber auf die Knie.
»Johann! Komm herunter, ich warte auf Dich auf der anderen Straßenseite vor dem Haus in einem blauen Lieferwagen. Lass uns reden!« Frieder schwieg, seine Knochen schmerzten. Er hätte bereits deswegen auch laut aufgeschrien und doch viel lauter noch aus Ärger und Verzweiflung.
»Komm schnell, Deine Zeit wird sonst knapp. Sie wird auch kurz für Friedemann!«, forderte die Stimme plötzlich mit bedrohlicher Bestimmtheit. Nicht die gänzliche Ungelegenheit dieses Anrufs, nicht die drohende Konfrontation, nicht die Gewissheit unter Druck zu geraten, sondern der Name 'Friedemann' traf Frieder wie ein Schlag. Er verlor völlig die Fassung. Aus unbändiger Wut und mit jäher Wucht schleuderte Frieder das Telefon so hart gegen die Wand, dass es in Stücke zerbarst.
Die junge Journalistin Fatima Siniola, Mitte zwanzig, gertenschlank, Rehaugen, Schmollmund, langes schwarzes Haar gebändigt in einer reizenden Hochsteckfrisur, saß unruhig mit übereinandergeschlagenen und wippenden Beinen auf einer Stuhlkante. Sie wartete im schmucklosen Vorzimmer eines Büros in einem Geschäftsgebäude irgendwo in der Altstadt Vallettas. Das Kleid rutschte ihr immer wieder über die Knie und verriet am rechten Oberschenkel einen bereits gelblich-grünen Bluterguss, den sie sich vor ein paar Tagen bei einem Reitunfall zugezogen hatte. Sonst jedoch war ihre Erscheinung makellos. Dessen war sie sich auch voll bewusst und dass sie im gleich folgenden Interview allein durch ihre Ausstrahlung auf ihren Gesprächspartner einen souveränen und professionellen Eindruck machen würde. Und das war wichtig. Nach Universitätsstudium und Volontariat bei einem italienischen Fernsehsender sowie anschließender freier Mitarbeit bei verschiedenen namhaften Zeitungen übernahm sie erst vor Kurzem für ein Nachrichtenmagazin die Korrespondenz für Südost-Europa und den Nahen Osten. Dieser Einsatz hier war für sie die erste Gelegenheit und auch Verpflichtung, ihrem neuen Arbeitgeber ihr journalistisches Talent zu beweisen. Sie hatte für die nächste Ausgabe des Magazins ein Interview für drei Seiten und sieben Spalten mit dazugehörender Bildstrecke zu liefern. Für das geforderte Bildmaterial stand Fatima Siniola der Fotoreporter ihres römischen Redaktionsbüros zur Seite. Er saß neben ihr und nutzte die Sitzfläche des Stuhls in ganzer Breite und mit der Routine eines langen Reporterlebens gerade einfach so für eine Schlummerpause. Tom Greenwood, alt ergraut, ein Brite und weltgereistes Urgestein der Branche, war eingenickt und schien seinem Ruhestand entgegenzudämmern, in den er in letzter Zeit des Öfteren vorgab, bald einzutreten. Die Journalistin dachte, wie längst jeder in der Redaktion, dass Tom selbst noch bei seiner eigenen Beerdigung seiner Berufung verbunden bliebe und aus dem Sarg heraus die an seinem Grab versammelte Trauergemeinde fotografieren würde. Kultur war Fatimas Siniolas Sache nicht, soweit sie es allerdings nur vertrauten Kollegen hin und wieder andeutete. Viel lieber lagen ihr Themen aus Politik und Wirtschaft, mit denen sie durch zahlreiche Beiträge ungeachtet ihrer noch jungen Jahre in der Medienbranche bereits hatte aufhorchen lassen. Im Besonderen wegen ihrer unbestechlichen und genauen Analysen über die sozialen und ökonomischen Entwicklungen in den Ländern des Maghreb und Ägyptens wurde sie bereits von den Wortführern der Medienzunft beinahe einhellig als aufstrebendes Talent beachtet. Mit Brecht jedoch, und überhaupt mit ins Arabische übersetztem epischen Theater, fing Fatima Siniola von Grund auf nichts an. Doch war es der Wille der Redaktions- und sicher auch der obersten Verlagsleitung, den Lesern einen der prominentesten Förderer arabischer Literatur und zudem noch bekennenden Bewunderer von Brecht vorzustellen. Die vorbereitende Recherche für das Gespräch mit Mohamad Achmadi bereitete ihr Mühe. Das Ergebnis bestand stichwortartig zusammengefasst aus wenigen Blättern, die in einer Dokumentenmappe auf ihrem Schoß enthalten waren. Der Anlass für das Gespräch ergab sich aus dem Zusammentreffen aktueller Ereignisse, die ohne das enorme finanzielle Engagement des ägyptischen Mäzens völlig undenkbar geblieben wären. Zum einen förderte er das überraschend erfolgreich durchgeführte Brecht Festival in Kairo mit in Arabisch aufgeführter Dreigroschenoper und einigen anderen Stücken von Brecht. Zum anderen ermöglichte der Ägypter das seit einigen Jahren mit wachsendem Zulauf in Tunis stattfindende Max-Frisch-Seminar zur Ausbildung junger ägyptischer und nordafrikanischer Schauspieler. Nun sollten die Schüler des Seminars sowie die Ensembles des Festivals in den kommenden Wochen auf Tournee durch West-Europa geführt werden. Das Ziel bestand darin, jugendliche Nachkommen maghrebinisch stämmiger Migranten zur Reflexion und schöpferischen Auseinandersetzung über ihre Lebenssituation in der westlichen Gesellschaft anzuregen. Die Journalistin öffnete ihre Mappe und nutzte die Wartezeit, um ihr Material und die notierten Fragen, die auf einem Blatt ganz oben lagen, noch einmal zu überfliegen. Interessanter als Fragen, die unmittelbar auf diese Kulturereignisse und die Gründe zu deren Förderung abzielten, schienen ihr Ansätze, die den bemerkenswerten Hintergrund des Mäzens ausleuchten sollten. Er war kein Moslem, sondern Christ und engagiertes Mitglied der orthodox-koptischen Kirche Ägyptens. Seine Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie des Mittelstandes, seine Ausbildung zum Bauingenieur mit Promotion auf Hochschulen der DDR und Ehe mit einer ostdeutschen Ärztin waren für sich alleine bereits berichtenswert. Sein kometenhafter geschäftlicher Aufstieg vom lokalansässigen Schrotthändler in Ägypten bis hin zum weltweit tätigen Stahlgroßhändler, Reeder und Immobilienmogul gäbe zudem Stoff für eine Hofberichterstattung. Er ließ seine Familie vermutlich zu einer der reichsten in Ägypten werden. Für Fatima Siniola von besonderem Interesse galt jedoch der weitreichende Einfluss ihres Interviewpartners durch Mitgliedschaft in unzähligen Bei- und Aufsichtsräten vielfältiger ägyptischer, libanesischer, französischer, italienischer, englischer, deutscher und überhaupt internationaler Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen. Wer immer sich eine fundierte Meinung über die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und denen des Nahen Ostens und Nord-Afrikas erlaubte, sollte dafür auch Mohamad Achmadi zitieren. Am besten sollte jeder, der sich auf ihn berief, ihn auch selbst kennengelernt haben. So war sie dankbar für diese einmalige Gelegenheit zum Interview, wenn auch um den Preis einer glücklich seltsamen Fügung, ausgerechnet über Kultur mit ihm in einen persönlichen Kontakt zu kommen. Ihre Neugier an dem Ägypter beschränkte sich jedoch nicht allein auf Wirtschaft und Kultur. Am weitaus interessantesten schienen ihr einige vielleicht unangenehme Fragen an den Mäzen, die sie sich auf einem gesonderten und weit nach unten geschobenen Blatt notiert hatte. Es ging ihr nicht um Klatsch von der Sorte, die auch in jedem beliebigen Friseursalon kursierte. Dabei galt ihr Gesprächspartner alles andere als skandalumwittert. Es gab ungewöhnlich wenig für einen Menschen solcher Bedeutung, dass bisher über sein Privatleben berichtet worden war. Das, wodurch er bei ihrer Recherche besonders auffiel, war im Tenor der Gesamtheit aller veröffentlichter und verfügbarer Quellen seine Unauffälligkeit. Jeder hätte demnach auch meinen können, dieser Ägypter wäre wie ein netter, alter Herr von nebenan. Er galt als liebevoller Ehemann und treu sorgender Vater von vier erwachsenen Kindern und Großvater einer kleinen Schar von Enkeln. Sein Privatleben hätte die Journalistin trotz allen professionellen journalistischen Gespürs nicht im Mindesten interessiert, arbeitete sie nicht, wie sie glaubte, zufällig für diesen Auftrag mit Tom Greenwood zusammen. Der Bildreporter war vor beinahe 20 Jahren für eine Berichterstattung über einen Justizskandal auf Malta eingesetzt gewesen. Der Sohn eines ägyptischen Industriellen, eben einer der drei Söhne ihres Interviewpartners, war wegen Verdachts auf groß angelegten Drogenhandel inhaftiert worden. Doch es kam zu keinem Prozess. Es wurde noch nicht einmal Anklage gegen ihn erhoben. Stattdessen wurde er gegen Zahlung einer Kaution aus angeblich unbekannter Quelle und in nie veröffentlichter Höhe zusammen mit einem mutmaßlichen Komplizen, einem Deutschen namens Bogart, noch in derselben Nacht wieder auf freien Fuß gesetzt. Dem Sohn und dessen Begleiter gelang es, Malta auf unbekanntem Weg rechtzeitig zu verlassen, noch ehe am Folgetag nach einer juristischen Überprüfung des Verfahrens die Freisetzung auf Kaution revidiert werden sollte. Es drohte, ein Skandal daraus zu werden. Denn bereits nach wenigen Tagen wurden die Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Drogenhändler gänzlich fallen gelassen, so als wäre nie etwas geschehen. Die Vermutung, dass der ausländische Industrielle mit Schmiergeld und Unterdrucksetzung auf die maltesische Justiz in seinem Sinne eingewirkt habe, war viel zu aufdringlich gewesen, um nicht darüber vielerorts zu berichten. Doch erwies sich das Medienecho des Skandals im Ganzen als ausgesprochen dünn und zurückhaltend. Der leise Verdacht auf Verwicklungen des Industriellen selbst in den internationalen Drogenhandel, genährt durch nicht unplausible Gerüchte auf Grundlage auch nicht völlig unglaubwürdiger Zeugen, blieb in den Medien bis auf eine beiläufige Randnotiz vollkommen ausgespart. Tom Greenwood fand es zwar merkwürdig, allerdings gemessen an seinen langjährigen Erfahrungen als Reporter auch nicht völlig überraschend, dass die Polizeifotos von der Festnahme offiziell nie an die Presse weitergegeben wurden. Doch was der Industrielle scheinbar im großen Stil hinter den staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kulissen beeinflussen und schmieren konnte, das vermochte Tom Greenwood im Rahmen seiner Möglichkeiten ebenso. Er besorgte sich die Aufnahmen im inoffiziellen Gestrüpp journalistischer Informationsbeschaffung. Eben diese Fotos steckten nun in Fatima Siniolas Dokumentenmappe unter all den anderen Blättern und Notizen ganz zuunterst. Tief im Innern von der Versuchung angespannt, folgte die Journalistin dennoch der Vernunft, ihrem Interviewpartner niemals Fragen zu jenem damaligen doch sehr persönlichen und familiären Vorfall zu stellen. Zumindest nicht bei ihrer ersten Begegnung mit ihm wollte sie so weit gehen.
Читать дальше