1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Kinder!«, stöhnte Maria und fasste Fatima Siniola am Arm, »kommen Sie, wir nehmen die Pferde.«
Das Anwesen von Maria Achmadi-Bogart gründete auf einer ehemaligen Karawanserei etwa 40 km flussabwärts von Luxor auf der westlichen Seite des Nils in einer Einöde außerhalb des grünen Bandes des Flusstals. Um einen Quelltrichter herum maß das modernisierte Areal nahezu im Quadrat etwa 16 ha und bestand aus einer großzügigen Villa und zu den Seiten aus drei Bereichen unterschiedlicher Stallungen. Die Ställe für das Gestüt waren eindeutig durch die umgebenden Koppeln bestimmbar, die Geflügelställe auf der gegenüberliegenden Seite waren von technisch passender, neuester Bauart und hatten einige hochragende Kraftfuttersilos. Gegenüber des Wohnhauses, bereits weiter entfernt und jenseits des bewässerten, parkartig begrünten Hofs, befanden sich die historischen Bauten der Karawanserei. Dass diese ebenfalls als Ställe, genau genommen als Schweineställe, genutzt wurden, bemerkte die Journalistin bereits am Geruch, als sie ihr Weg bei der Ankunft daran vorbeiführte. Gestern Abend ließ Mohamad Achmadi sie hierher bringen, nachdem er noch während des Flugs mit seiner Tochter telefoniert und den Besuch der jungen Pferdefreundin angekündigt hatte. Er selbst hätte noch Geschäftliches in seinem Büro in Luxor zu erledigen. Nichtsdestoweniger lud er Fatima Siniola für den folgenden Tag zu einem Abendessen im Kreis der Familie Achmadi in deren Stadtresidenz ein. Maria freute sich wohl auf Fatima Siniolas Besuch, denn alles, was ihr ein wenig Ablenkung versprach und den großen Druck von Anspannung und Ungewissheit nahm, schien ihr willkommen. Zudem empfand sie die Journalistin, die gute zehn Jahre jünger war als sie, vom ersten Moment der Begegnung an als sehr sympathisch. Noch spät am Abend hatte sie ihr das Gästehaus herrichten lassen und Dienstpersonal bereitgestellt. Sie begrüßte sie bei ihrer Ankunft mit einer freundlichen Umarmung. Es blieb bei diesem Zeichen der Gastfreundschaft. Denn Fatima Siniola war viel zu betrunken und Maria noch zu erschüttert von einer schlechten, wenn auch erwarteten Nachricht des Nachmittags. Es wäre beiden schwergefallen, weiter Worte zu finden, als sich eine gute Nacht zu wünschen und für den nächsten Morgen eine Verabredung zu treffen. Maria wäre in einer sehr privaten Angelegenheit zunächst alleine gefahren, ohne ihren neuen Besuch, den sie kaum kannte. Doch dann, als der Tag begann, mischte sich Bedrückung in ihre Ungewissheit. Sie wollte nicht in ihre Rolle als Gutsherrin zurückgeworfen sein, die sich nüchtern auf den Weg begab, die Leiche ihres vermissten Ehemanns zu suchen, so als führe sie zu einem beliebigen Geschäftstermin. Deshalb schickte sie Fatima Siniola noch vor dem gemeinsamen Frühstück eine Einladung, mitzufahren und wozu, das würde sie auf der Fahrt noch erfahren. Maria ließ ihre unbedingte Bitte an sie ausrichten, keine Kamera oder sonstiges journalistisches Gerät mitzunehmen. Die Journalistin hatte keine Vorstellung davon, um welchen Anlass es sich dabei handelte. Sie folgte Marias Bitte, denn alles, was diente, dem Besuch einen privaten und keinen beruflichen Anschein zu verleihen, konnte ihr gerade in der frühen Phase des Kennenlernens nur von Nutzen sein.
Nachdem die beiden Frauen zu einem Tor an einem der Pferdeställe gegangen waren, standen sie wortlos, ziemlich verlegen nebeneinander und warteten, bis Bedienstete zwei herrliche, temperamentvolle und doch disziplinierte Araberpferde aufgesattelt hatten. Fatima Siniola fühlte sich unsicher. Sie hatte gestern mit ihrer angeblichen Reitkunst vor Marias Vater geprahlt und viel zu dick aufgetragen. Natürlich würde sie das Reiten nicht verlernt haben, doch bliebe sie in Marias Einschätzung wirklich eine geübte Turnierreiterin? Wie zum Glück hatte sie in den vergangenen Jahren hin und wieder ziemlich unbedeutende Amateurturniere als Zuschauerin besucht, bei denen Maria als meisterhafte Reiterin wohl niemals selbst teilgenommen haben würde, da diese weit unter ihrem Niveau lagen. Fatima Siniola hätte eben für diese Turniere ihre aktive Teilnahme zu behaupten. Im Übrigen gäbe sie Rückenschmerzen als Vorwand für ihre für derzeit recht bescheidene Reitkunst vor. Wie selbstverständlich verfluchte sie Marias Sohn Sylvain insgeheim, denn Fahren statt Reiten wäre ihr alle Mal besser zupassgekommen. Es roch nach Verbranntem und eine schwarze Rauchsäule stieg vom Vorplatz des Wohnhauses auf, Geschrei von Mitarbeitern und dazwischen, ganz zart vernehmbar, der Gesang eines Mädchens. Deswegen hatte es Maria jedoch nicht eilig, denn sie wartete, bis auch Fatima Siniola sicher im Sattel saß. Dann ritten beide im zügigen Trab los, mitten durch den Park im Innern der Karawanserei, hinaus in das Gelände aus Wüste und Stein, durch das sich ein ausgetretener Pfad hinab in das Flusstal zog. Als die Journalistin zurückblickte, sah sie den Landcruiser in einem Feuerball. Ein Kindermädchen jagte den flinken Sylvain in beeindruckender und doch nicht ausreichender Sportlichkeit über den Hof. Eine Gruppe Männer mühte sich mit einem einfachen Gartenschlauch und dünnem Wasserstrahl im Kampf um das brennende Wrack. Der Fahrer saß im Schneidersitz in sicherer Entfernung und tat gar nichts, weil er um seine Entlassung wusste. Und Kora-Lisa tanzte um ihn herum, frohlockend und singend.
»Sylvain?«, fragte Fatima Siniola.
»Nein, meine Tochter«, antwortete Maria, »vermutlich und zumindest leidvoller Erfahrung nach.« Erst nach einer Weile und im parallelen Ritt eher beiläufig fügte Maria eine Erklärung hinzu: Kora-Lisa durchlebte bereits seit einiger Zeit eine schwierige Entwicklungsphase. Sie neigte zur Pyromanie. Immer wieder hatten sie ihr Streichhölzer und Feuerzeuge abgenommen. Doch keine Schränke oder Schubladen schienen vor der Kleinen sicher, aus denen sie sich offenbar mit Leichtigkeit immer wieder von Neuem bediente. Anfangs noch waren die Schäden gering, schlimmstenfalls angesengte Haare oder Brandlöcher in ihren Kleidern. Erst vor wenigen Wochen jedoch gingen in einem Nebengebäude der Villa die Arbeitsräume von Marias Ehemann in Flammen auf. Viele geschäftliche wie wissenschaftliche Unterlagen, aber auch wichtige persönliche Dokumente, verbrannten vollständig. Der private und wissenschaftliche Bereich des Anwesens blieb durch eine Mauer von den übrigen Anlagen der Karawanserei abgesondert und wurde durch einen Sicherheitsdienst ständig personell und elektronisch überwacht. Der Zutritt durch Unbefugte war daher ebenso auszuschließen wie auch eine technische Ursache. Nach einer gründlichen Untersuchung und Befragung aller zur Unglückszeit in der Villa Anwesenden blieb für den Brand schließlich Kora-Lisa als allein infrage kommende Tatverdächtige übrig.
»Kinder, auch neunjährige Mädchen, machen mitunter große Dummheiten. Damit müssen Eltern eben leben und den Preis dafür bezahlen«, stellte Maria fest und fügte traurig hinzu, »aber das Schlimmste ist, dass sie dich schon im Kindesalter schamlos anlügen. Kora-Lisa bestreitet bis heute alles und behauptet felsenfest, nichts angestellt zu haben.«
Sylvain, fuhr Maria fort, wäre hoffentlich bald so weit, um auf einem englischen Internat aufgenommen zu werden. Im letzten Jahr verfehlte er den Eignungstest, nicht aus Mangel an Begabung, sondern weil die Aufnahmekommission bei ihm einen Entwicklungsrückstand feststellte. Die Kommission empfahl eine psychotherapeutische Behandlung, worauf dann der kleine Sylvain im Laufe eines Jahres einmal wöchentlich von Luxor aus zu einer einstündigen Sitzung bei einem Kinderpsychologen nach London geflogen wurde. Die Behandlung schien angeschlagen zu haben, denn Sylvain wurde im Verlauf dieser einjährigen Therapie wesentlich ruhiger, einsichtiger und im Besonderen umgänglicher. Bei solch eindrucksvollem Erfolg in der Entwicklung des Sohnes hatte sich die Familie unter dem wachsenden Eindruck der von der Tochter verursachten Brandschäden entschieden, nächstens auch Kora-Lisa die Segnungen moderner englischer Kinderpsychologie angedeihen zu lassen. Sobald sie denn mit ausreichenden Sprachkenntnissen dafür empfänglich wäre. Eine Tracht Prügel würden Kinder auch ohne Sprachkenntnisse verstehen, mutmaßte Fatima Siniola im Stillen. Da sie jedoch selbst keine Kinder hatte - und für den Moment mit Sicherheit auch keine wollte - unterließ sie irgendwelche Kommentare. Sie hörte Maria nur aufmerksam zu und schenkte der geplagten Mutter eben ihr Ohr, doch Verständnis für sie aufbringen, konnte sie nicht.
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