Marlene biss sich auf die Unterlippe. Klar, Samstagabend war alle vierzehn Tage Fußballtraining. Das wusste sie eigentlich. Auch, dass dieser Termin heilig war. Die Jungs kannten sich noch aus der Schule und reisten zum Teil bis zu fünfzig Kilometer an, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Na gut, es war nicht zu ändern.
Am Freitag saß Marlene erwartungsvoll in der fünften Reihe des Kölner Stadttheaters. Der Vorhang hob sich und sie ließ sich gefangen nehmen vom Spiel der Akteure. Stefan Sommer spielte die männliche Hauptrolle, er war Tom Joad, natürlich. Und er war gut. Sie war beeindruckt, so viel Bühnenpräsenz hatte sie ihm gar nicht zugetraut, ihn eher als ordentlichen, aber nicht herausragenden Fernsehschauspieler einsortiert. Aber was er hier ablieferte, verdiente Respekt.
Sie hatten verabredet, dass sie im Ristorante La Fontana auf ihn warten sollte, wo ein Tisch reserviert war. So vermied sie es, sich mit enthusiastischen Verehrerinnen am Bühneneingang herumdrücken zu müssen. Und er vermied das Aufsehen, dass eine auf ihn wartende attraktive Frau (seine Worte!) für die Klatschpresse bedeutete. Stefan Sommer war Single.
Marlene musste sich nur zehn Minuten gedulden, die sie sich mit einem Aperol Spritz vertrieb. Stefan Sommer hatte sich offensichtlich mit dem Abschminken beeilt und trug jetzt eine lässige Jeans und unter der schwarzen Lederjacke ein dunkelblaues Hemd, das sehr sportlich und sehr teuer aussah. Passte perfekt zu seinen Augen. Diese Schauspieler wussten einfach, wie man sich gut anzog. Zum Glück hatte sie sich ebenfalls aufgebrezelt und musste sich in ihrem türkisfarbenen Wickelkleid nicht verstecken. Passte ebenfalls zu ihren Augen.
„Sie waren toll.“ Marlene meinte es ehrlich. Aber zweifellos hätte sie das auch gesagt, wenn sie weniger beeindruckt gewesen wäre. „Alle waren gut. Aber Sie waren einfach toll.“ Einen Moment zögerte sie, dann sagte sie es doch: „Wenn ich ehrlich sein soll: Ich hatte Sie bisher unter Seriendarsteller abgespeichert. Ich wusste nicht, dass Sie auch Theater spielen.“ Stefan Sommer nahm einen tiefen Schluck von dem Weizenbier, dass der Kellner seinem Stammgast gleich bei dessen Ankunft serviert hatte. „Leider komme ich viel zu selten dazu. Wenn man in Serien mitspielt, muss man sich zwar keine Sorgen mehr machen, wovon man im nächsten Monat die Miete bezahlt, aber man ist zeitlich auch extrem verplant. Das passt dann mit Theaterproben meist nicht zusammen. Mit spannenden Filmangeboten übrigens leider auch nicht. Deswegen überlege ich schon eine Weile, ob ich da nicht etwas ändern sollte. Die Bekanntheit sozusagen mitnehmen und dann das machen, was ich wirklich machen will. Aber ich bringe es noch nicht übers Herz, meinem Lieblingsregisseur das anzutun. Er sagt, er braucht Zeit, um mich aus der Serie rausschreiben zu lassen.“
Marlene war beeindruckt, wie offen ihr künftiger Autor sich zeigte. Wenn sie damit an die Presse ginge, bekäme er bestimmt ein Problem. Er schien ihre Gedanken lesen zu können. „Das dürfen Sie natürlich auf gar keinen Fall irgendwo verlauten lassen, sonst komme ich in Teufels Küche.“ Er grinste. „Aber was anderes: Ich heiße Stefan.“ Nun grinste auch Marlene: „Was Sie nicht sagen, Herr Sommer.“ Der Angesprochene schaute ihr tief in die Augen und sagte beschwörend: „Darf ich dich Marlene nennen, Frau Winter? Das würde unserer Zusammenarbeit bestimmt guttun.“
„Das darfst du, Stefan. Auf gute Zusammenarbeit!“ Marlene erhob ihr Glas. „Freut mich, dass ich den großen Stefan Sommer duzen darf. Es muss sich doch lohnen, dass ich meinen Freund heute Abend versetzt habe.“ Stefan zuckte nicht mit der Wimper. Sollte er weitergehende Absichten oder Hoffnungen gehegt haben, dann ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Aber dafür war er schließlich Schauspieler.
Marlene nutzte den Rest des Abends, um im Sinne des Verlags mit ihm zu verhandeln, ohne es dabei an Wertschätzung fehlen zu lassen. ‚Zehn Prozent, er ist schließlich absoluter Anfänger‘, hatte Peter vorgegeben. ‚Diese Promis denken immer, sie kommen daher und das Universum liegt ihnen zu Füßen. Wenn es super läuft, können wir für die zweite Auflage zwölf Prozent in den Vertrag schreiben – und für alle weiteren gern fünfzehn. Denn dazu wird es höchstwahrscheinlich sowieso nicht kommen. Und wenn doch: umso besser.‘
Stefan bestellte Spaghetti all’Arrabiata, hörte aufmerksam zu, blieb freundlich, war aber ein harter Verhandlungspartner. Als Autor war er zwar ein Neuling, aber ums Honorar feilschte er offenkundig nicht zum ersten Mal. Marlene allerdings auch nicht. Sie verzehrte mit Genuss ihre Linguine Vongole und blieb verbindlich, aber in der Sache hart. Sie hatte gute Erfahrungen damit gemacht, ehrlich zu sein. Vor allem war es wichtig, nicht gleich alle Karten auf einmal auf den Tisch zu legen. Man musste immer nachgeben können. Zehn Prozent waren ihm zu wenig? Das war bei einem Verkaufspreis von achtzehn Euro grade mal 1,80 €. Da müsste er ja Millionen Bücher verkaufen, um seinen Ferrari zu finanzieren … Stefan seufzte herzzerreißend.
Marlene musste lachen und zog ihm gleich noch einen Zahn: „Sogar noch ein paar Millionen mehr, denn Honorare errechnen sich nicht vom Ladenpreis, sondern vom Nettopreis, sprich: abzüglich Mehrwertsteuer und Rabatte. Also vielleicht schaust du dir doch lieber vermehrt Mountainbike-Prospekte an.“
Als sie beim Dessert angekommen waren, hatten sie sich auf eine relativ niedrige erste Auflage geeinigt, sodass es für Stefan schnell in die Zwölfprozent-Region gehen würde. Und der wiederum hatte versprochen, dass er die nächsten Monate intensiv dem Buch widmen wollte, damit es rechtzeitig in einem Jahr auf den Markt kommen könnte.
Marlene ließ es zu, dass er sie bis zum Hotel brachte und mit einem Küsschen verabschiedete. Morgen würde sie auf dem Weg zum Bahnhof in seinem zukünftigen Zuhause im Belgischen Viertel vorbeikommen und sich den kostbaren Tagebuch-Schatz im Original ansehen. Zufrieden fiel sie wenig später ins Bett und sofort in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen stand Marlene gegen zehn Uhr vor einem eindrucksvollen dreistöckigen Haus in der Brabanter Straße. Es war relativ schmal, hatte ab dem ersten Stock einen vorspringenden Erker und strahlte solide Gründerzeiteleganz aus. Die Straße war ruhig, aber ringsherum gab es jede Menge Cafés, kleine Boutiquen, Restaurants und Obst- und Gemüselädchen. So zu wohnen musste fantastisch sein. Marlene klingelte. Es summte und die Tür sprang auf. Ihr Blick fiel in ein marmornes Treppenhaus, das sich nach wenigen Stufen zu einem Raum weitete, für den ihr nur das Wort ‚Vestibül‘ einfiel. Sowas gab es eigentlich gar nicht mehr. Schon gar nicht in Privatwohnungen. Wow. Auf der obersten Stufe stand Stefan, in Sweatpants und verschwitztem T-Shirt, ein Handtuch um die Schultern und einen Latte-Macchiato-Becher in der Linken. Nochmal wow.
„Ich stör dich beim Training?“ Marlene hatte Fragezeichen in der Stimme. „Aber nein, bin schon beim Kaffee danach. Nur zum Duschen bin ich noch nicht gekommen, weil ich die Zeit mit dem Versuch vertrödelt habe, Mathildes Schrift zu entziffern. Da brauch ich echt Nachhilfe. Komm rein.“
Mathilde betrat die geräumige Empfangshalle, die mit alten Teppichen und zierlichen Biedermeiermöbeln eingerichtet war. „Die Küche ist gleich rechts – und da hat die moderne Zeit auch schon Einzug gehalten.“ Beim Rest vom Haus muss ich nach und nach umräumen.“ Stefan stöhnte leise. „Das ist ja alles relativ kostbar. Man kann es nicht einfach zum Sperrmüll bringen. Aber bis auf ein paar Erinnerungsstücke werde ich nicht viel behalten. Das ist irgendwie so gar nicht mein Stil.“ Er ging ihr voraus und betrat einen großen Raum, dessen gesamte Rückwand verglast war und einen Blick in den Garten gestattete. In der Mitte befand sich eine moderne Kochinsel, auf der rechten Seite waren Schränke mit Töpfen, Pfannen, Tellern und Tassen untergebracht. Und links stand eine gemütliche Eckbank mit einem Eichentisch. Hier konnte man es aushalten.
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