„Also“, nahm Marlene den Faden wieder auf, als der freundliche Kellner die Getränke auf den Tisch gestellt hatte, „Sie wollen ein Buch schreiben, es steht noch keine Zeile davon, aber Sie suchen schon einmal einen Verlag und möchten meine Dienste als Lektorin in Anspruch nehmen. Habe ich das richtig verstanden?“ Der Autorennovize nickte. „Dann erzählen Sie mir doch am besten erst mal, worum es gehen wird. Zum Wohl!“ Marlene hob ihr Glas und prostete Stefan Sommer zu.
Der lächelte sie über sein Bier hinweg freundlich an, nahm einen großen Schluck und seufzte zufrieden. „Also, ehrlich gesagt: Dass ich heute sozusagen öffentlich darüber rede und zugebe, seit einiger Zeit diese fixe Idee nicht mehr loszuwerden, setzt mich natürlich unter Zugzwang. Ich möchte ja nicht in ein paar Monaten in der Klatschpresse lesen, es gebe da ein Gerücht, Stefan Sommer schreibe einen Liebesroman. Aber er habe den Mund wohl zu voll genommen und die Sache sei im Sande verlaufen.“
„Einen Liebesroman?“ Marlene schaute entgeistert. „Also, da sind Sie bei uns nun wirklich nicht an der richtigen Adresse.“ „Nein, na ja – es ist so …“, ihr Gegenüber holte tief Luft. „Es geht um die Geschichte von Mathilde Jäger. Die lebte im neunzehnten Jahrhundert und starb kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Unverheiratet. Denn als Leiterin einer höheren Mädchenschule in Berlin konnte sie natürlich nicht die liebende Gattin eines Rechtsanwalts sein. Oder die Gattin von überhaupt irgendjemand. Und das machte meinen Urgroßvater Friedrich Sommer eine Zeitlang sehr unglücklich. Er war nämlich dieser Rechtsanwalt. Nach dem Tod seiner Mathilde hat er im reifen Alter von dreiundfünfzig Johanna, eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, geheiratet und ‚meinen‘ Zweig der Familie begründet. Aber zu seinem Sohn aus erster Ehe soll er ein herzliches Verhältnis gehabt haben. Die Geschichte wird in unserer Familie immer zu hohen Feiertagen erzählt, und vom Leben der beiden war ich schon als kleiner Junge fasziniert. Sie fanden dann nämlich doch einen Weg, um zusammen zu sein.“
„Als historische Arbeit wird schon eher ein Buch daraus, das in unser Programm passt“, Marlene dachte laut. „Aber eine wissenschaftliche Abhandlung wollen Sie ja offenbar gerade nicht schreiben?“ Sie schaute ihr Gegenüber fragend an.
Der antwortete nicht gleich, sondern schaute erst einmal erfreut dem Kellner entgegen, der sich mit zwei appetitlich aussehenden riesigen Tellern ihrem Tisch näherte. „Mann, hab ich einen Hunger. Seit dem Frühstück war irgendwie keine Zeit zum Essen. Das sieht verdammt gut aus.“ Stefan Sommer brauchte jetzt offenbar erst mal ein paar Gabeln voll Soulfood. Und Marlene ging es nicht anders, auch bei ihr hatte es über Mittag nur zu einem Schokoriegel gereicht.
In einträchtigem Schweigen fielen die beiden über ihr Abendessen her. Es war köstlich. Nach einigen Minuten seufzte Marlene genüsslich. Jetzt war sie wieder zu weiteren Überlegungen bereit. „Wir verlegen natürlich auch Sachbücher mit historischem Hintergrund. Da könnten Sie schon durchaus reinpassen.“
„Es freut mich, dass Sie das auch so sehen. Genau das hat Andreas nämlich auch gesagt, als ich ihm von meinem Fund berichtet habe.“ – „Ein Fund?“ Jetzt war Marlene ganz Ohr. „Was haben Sie denn gefunden?“
„Meine Großmutter ist im Frühjahr verstorben.“ „Das tut mir sehr leid“, Marlenes Mitgefühl war nicht gespielt. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie vor zwei Jahren um ihre eigene Großmutter getrauert hatte, mit der sie wunderbare Kindheitserinnerungen verbanden.
„Ja, es war schwer für mich. Sie hat mich praktisch großgezogen, weil meine Eltern den ganzen Tag im Geschäft waren. Sie betreiben einen kleinen Schuhladen mit edlen italienischen Marken. Und hatten nie Zeit für mich. Zum Glück bin ich ein Einzelkind geblieben, schon damit waren sie überfordert.“ Hmm, besonders unglücklich sah Stefan Sommer eigentlich nicht aus.
Er schien Marlenes Gedanken zu lesen, denn er fuhr rasch fort. „Sie sind schon irgendwie großartig. Aber sie waren halt immer unterwegs: im Laden, auf Messen, in Italien, um die neuesten Trends aufzuspüren. Als ich älter war, haben sie mich manchmal mitgenommen. Das war toll. Dann hatte ich den ganzen Tag für mich und machte Florenz, Lucca oder Rom unsicher. Hab ganz ordentlich Italienisch gelernt in der Zeit.“ Stefan Sommer schob noch einen Bissen Huhn auf die Gabel. „Wenn wir mal zusammen waren, war es super, wie gesagt. Und für die ganze restliche Zeit hatte ich halt Oma. Die sorgte dafür, dass ich ordentlich ernährt wurde, dass meine Hemden sauber waren und dass ich wenigstens ab und zu mal Hausaufgaben machte. Wir haben uns geliebt.“
Er seufzte: „Als ich nach dem Abi auf die Schauspielschule wollte, hat sie für mich bei meinen Eltern ein gutes Wort eingelegt. Na ja, inzwischen haben die sich auch damit abgefunden, dass ich ihren Laden nicht übernehme. Ja, und im Frühjahr, Oma war inzwischen neunundachtzig, da ist sie gestorben und hat mir ihr Haus vererbt. Unser Haus. Ich wohnte da natürlich schon lange nicht mehr. War nur ein paarmal im Jahr zu Besuch dort. Und jetzt musste ich es ausräumen.“
„Das war bestimmt nicht leicht.“ Marlene sah ihn mitfühlend an. „Nein. Aber ich habe beschlossen, dort wieder einzuziehen: Ein wunderschönes Gründerzeithaus mitten in Köln, zentral und komfortabel. Für Oma war es eigentlich schon längst viel zu groß. Aber sie wollte nicht mehr umziehen. Was ich immer gut verstanden habe.“
Nachdenklich blickte Stefan Sommer auf seinen Teller. Da lag nur noch eine einsame halbe Knoblauchzehe herum. „Zufrieden blickte er Marlene an: „Bestellen wir noch einen Nachtisch? Ich liebe gebackene Bananen.“ Damit war er nicht allein.
„Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, erzählte Stefan schließlich den Rest der Geschichte: „Natürlich musste ich entrümpeln. Und renovieren. Und wie gut, dass ich nicht einfach ein Unternehmen beauftragt habe, sondern alles selbst einmal in die Hand genommen habe. In der Wäschekommode fand ich eine Blechschatulle. Eine alte Keksschachtel. Und darin ein dickes, handgeschriebenes Tagebuch. In Sütterlin, versteht sich. Das wird mich noch Nerven kosten. Auf der ersten Seite stand in Schönschrift: ‚Mein Leben, meine Liebe und meine Passion. Von Mathilde Jäger‘.
„Ein Tagebuch. Ein authentisches Zeitzeugnis“, Marlene war fasziniert. „Das ist ja fantastisch. Wollen Sie es edieren? Oder als Basis für ein beschreibendes Werk nehmen?“
„Das ist genau die Frage, für die ich Beratung brauche. Eigentlich möchte ich beides. Das Original sprechen lassen, aber den Leser und die Leserin nicht im Nebel stochern lassen. Ich denke, man muss da schon ein paar Infos dazugeben, damit es verständlich wird. Aber dröge Wissenschaft soll es natürlich nicht werden. Das könnte ich auch gar nicht.“
„Hmm, verstehe. Würden Sie es mir anvertrauen, damit ich mir ein Bild machen kann, bevor ich eine Empfehlung ausspreche?“ Jetzt hatte Marlene Blut geleckt und war ganz in ihrem Element. Sie bestellten noch ein zweites Bier und verließen das Restaurant erst, als der Kellner diskret begann, die Beleuchtung zu dimmen.
Draußen sagte Stefan Sommer: „Jetzt weiß ich, warum Andreas Sie mir empfohlen hat. Zum ersten Mal seit Monaten sehe ich das Ganze plastisch vor mir. Weil Sie die richtigen Fragen gestellt haben. Ich danke Ihnen sehr für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben. Und jetzt bringe ich Sie zu Ihrem Hotel und rufe mir da ein Taxi.“
Marlene war es recht. Allmählich merkte sie doch, wie müde und kaputt sie inzwischen war. Kein Wunder, Mitternacht war bereits vorbei. Sie mussten nur einmal um die Ecke gehen, dann stand sie schon vor dem kleinen Hotel, in dessen Apartments der Verlag seine Mitarbeiter während der Messe immer unterbrachte. Zufrieden verabschiedete sie sich von Stefan Sommer. Das versprach eine runde Sache zu werden.
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