„Wieso?“, fragte Hans.
Jorgusch schien ihn nicht zu hören. Er holte Flickzeug aus seiner Satteltasche, fand das Loch, markierte es mit einem Bleistift, säuberte die Stelle mit einem Benzinlappen, schmierte eine Gummilösung darum, bevor er den Flicken draufsetzte. Erst dann sagte er, dass man in der größten Not die meisten Fehler machte.
Hans hoffte, dass er ihn nicht meinte, weil er nie planmäßig vorging, ob in Not oder nicht.
Jorgusch trat an ihn heran und flüsterte: „Es brennt doch alles ab, wenn die Feuerwehr keine Zeit hat, planmäßig das Feuer zu bekämpfen.“
Jetzt glaubte Hans ihn zu verstehen, weil er sich erinnerte, wie Josel gesagt hatte, die Russen drohten sie zu überrollen, weil sie keine Zeit hätten, planmäßig gegen sie vorzugehen. „Meinst du den Krieg im Osten?“, flüsterte er zurück.
Jorgusch prüfte die Klebeschicht und sagte dann, dass die Deutschen immer großen Wert auf Ordnung gelegt hatten, während die Polen lieber auf das große Wunder warteten. Jetzt hatten die Deutschen für Ordnung keine Zeit mehr.
Das verstand Hans nicht.
Jorgusch zog das Schutzpapier vom Flicken ab, klebte den fest auf den Schlauch, drückte den Schlauch wieder unter den Reifen und sagte: „In der größten Not hofft man immer auf ein Wunder. Jetzt hoffen die Deutschen auf ein Wunder, damit die Russen gestoppt werden. Für die Polen sind die Russen das Wunder.“
Hans erschrak. Er begriff, dass die Polen auf die Russen gesetzt hatten, die immer näher kamen. „Wir müssen die Russen aufhalten! Wenn man sie nicht aufhält, werden die Polen uns Oberschlesien nehmen.“
Jorgusch ließ sich wieder Zeit für seine Antwort. Er presste den Reifen in die Felge, kontrollierte das Ventil und pumpte prall auf, bevor er sagte: „Wenn die Polen auf ihr Wunder setzten, können das auch die Deutschen!“
„Ach, du meinst unsere neuen Wunderwaffen“, sagte Hans.
Er war froh, ihn endlich verstanden zu haben. Er erzählte von der Me 262, einem strahlgetriebenen Jagdbomber, der schneller war als jedes andere Flugzeug und dem Feind das Fürchten lehrte, wie er von Josel wusste.
Jorgusch drehte das Fahrrad um, das auf Sattel und Lenker gestanden hatte, und sagte, dass sich bei der nächsten Panne das Flicken nicht mehr lohnte, er müsste rundum erneuern.
In dem Augenblick kam Polly aus dem Gebüsch gelaufen und Jorgusch warf einen interessierten Blick auf sie. „Woher hast du die Töle?“
„Vom alten Polenhof.“
„Hm!“ Man merkte, dass Jorgusch überlegte.
„Warum fragst du?“
„Pjerunje bei Gleiwitz! Ich wette, die alten Bauern haben so manches an Schätzen zurückgelassen. Die mussten so schnell flüchten, die konnten gar nicht alles mitnehmen.“
„Hm!“, machte diesmal Hans.
„Dämlack! Verstehst du nicht? Wir machen eine Stippvisite im Polenhof und holen uns die kleinen Schmuckstücke. Deine Töle muss dabei sein. Die kennt das Gelände und kann uns bei Gefahr warnen.“
„Gehen wir jetzt?“
„Mitternacht! Nur dann findest du einen Schatz!“
Hans nickte. Schatzsuche! Das versprach Spannung.
„Vergiss nicht die Taschenlampe und den Sack für Fundsachen!“
So nahm Hans kurz vor Mitternacht mit Polly im Arm seinen Fluchtweg über den Birnbaum, der vor dem Fenster seines Zimmers stand. Er traf auf Jorgusch, der schon vor dem Einstieg in die finstere Hausruine wartete.
Es war eine sternklare Nacht, der Mond nur als dünne Sichel zu erkennen, und diese Dunkelheit kam ihm vertraut vor, während sich zu ihren Füßen ein schwarzes Loch auftat, das sie verschlucken würde, um sie nie wieder herauszugeben. Aber Jorgusch machte eine ungeduldige Kopfbewegung und Hans ließ Polly vor der Kellertreppe los und flüsterte „Such!“ Sie zögerte, richtete ihre Ohren auf, bewegte ihren Schwanz unruhig, bis sie hinunterlief und im Schein seiner Taschenlampe kaum zu sehen war. Er folgte ihr mit klopfendem Herzen und fühlte sich als Einbrecher, der in etwas Verbotenes eindrang, in ein feucht-heißes Grab, in dem das Licht der Taschenlampe wie ein Blitz hin und her zuckte, um gleich ein Gewitter auszulösen.
Da flatterte es um seine Ohren und wischte durch seine Beine und er schrie auf, aber Jorgusch sagte ruhig, dass es Fledermäuse und Ratten waren, die man zu erwarten hatte. Hans hatte sie nicht erwartet und sie erschienen ihm wie Unglücksboten. Er ließ sich von Jorgusch überholen, der mit seiner Lampe den Boden absuchte, der aus Stein bestand, aber Löcher zeigte, in denen Wasser blinkte, so dass es moderig roch.
Jorgusch warf den Lichtkegel an die Wand und auf einen Pfeiler, an dem ein Kasten aus schwarzem Metall lag, der dumpf schepperte, als er mit dem Fuß gegen ihn stieß. Aber er konnte ihn nicht öffnen, so sehr er sich bemühte, selbst mit dem Spaten nicht, den er im Nebenraum fand.
Da schlug er mit aller Kraft den Spaten auf den Kasten und ein entsetzliches Geräusch kam heraus, ein quietschender Schrei, der von allen Seiten widerhallte, so dass Hans vor Angst stöhnte. Jorgusch lachte: „Hast du Schiss? Hier hört uns keiner und wer uns hört, hat Angst vor Poltergeistern!“
Hans war nicht wohl dabei. Er hätte Jorgusch gern überredet, nach oben zu laufen, doch der begann mit dem Spaten die Steine des Fußbodens zu lockern, um den Kasten hoch zu heben. Es knirschte und das ganze Haus zitterte, und obwohl Hans schrie, endlich aufzuhören, setzte Jorgusch den Spaten unter den Kasten und wollte ihn nach oben wuchten. Der Pfeiler wehrte sich, er wollte den Kasten nicht freigeben, er ächzte und schüttelte sich und es war wie ein Klagen, das durch das Haus ging. Plötzlich krachte es und ein Riss zeigte sich an der Wand.
Jetzt hielt Hans nichts mehr zurück. Er rannte hoch, Polly neben ihm, die spitz winselte, und Jorgusch hinter ihm, der schwer keuchte. Der Boden schwankte, sie wurden ein-, zweimal gegen die Wand gestoßen, bis sie endlich ins Freie sprangen. Hinter ihnen grollte und polterte es und der ganze Keller schien zusammenzustürzen, aber sie wollten sich nicht umgucken, sondern liefen weiter, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.
Hans blieb stehen, rang nach Atem, stieß aus, dass Jorgusch mit seinem verdammten Leichtsinn sie fast getötet hätte.
„Es war verdammter Leichtsinn, die Polen zu vertreiben!“, keuchte Jorgusch. „Wir müssen aufpassen, dass unser Haus Oberschlesien nicht zusammenbricht!“
Hans war sprachlos. Das klang nach Pfarrer Lange. Das klang so, als ob er auch glaubte, dass sie ihre Heimat verlieren konnten. Kam jetzt doch das polnische Blut durch?
Er spielte trotzig auf seiner Mundharmonika: Oberschlesien ist mein liebes Heimatland / wo vom Annaberg man schaut ins weite Land / wo die Menschen bleiben treu in schwerster Zeit / für dies Land zu kämpfen bin ich stets bereit.
Selbst an Josels Geburtstag kam keine Nachricht von ihm. Hans fieberte und hustete. Es musste vom verdammten Polenkeller kommen, dachte er. Oder war es die Vorahnung, dass es Josel nicht gut ging? Das ließ ihn noch stärker husten.
Seine Mutter und Großmutter gingen zur Munitionsfabrik, Polly durfte bei Piontek einen Knochen benagen und er blieb zu Hause. Da klingelte es. An der Tür stand ein HJ-Führer in nagelneuer Uniform und schnellte den Arm nach oben und hätte ihn fast getroffen. Hans war so verwirrt, dass er das zackig gerufene „Heil Hitler!“ nur schwach erwiderte.
„Lauter!“, rief der Führer und Hans beeilte sich, deutlich „Heil Hitler!“ zu wiederholen.
Der Führer nickte und stellte sich als Siegfried vor, der den Auftrag hatte, ihn auf Vordermann zu bringen. Er blitzte ihn mit blauen Augen an und war groß, blond und kräftig und machte seinem Namen alle Ehre, weil er ihn an Jung-Siegfried erinnerte, den Drachentöter. Den hatte er mit Josel in den Nibelungen gesehen, so dass sein erster Gedanke war: Den hat mir Josel geschickt!
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