„Die teils noch sehr jungen Beschwerdeführenden seien durch Regelungen in dem Gesetz in ihren Freiheitsrechten verletzt, erklärten die Richter. ‚Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030.‘ Wenn das CO2-Budget schon bis zum Jahr 2030 umfangreich verbraucht werde, verschärfe dies das Risiko ‚schwerwiegender Freiheitseinbußen‘, weil die Zeitspanne für technische und soziale Entwicklungen knapper werde.“ (Heise Verlag, 2021)
Sie konnte sich die Kommentare der Schüler schon wieder vorstellen: „Wir werden mit unseren Beiträgen ihre Rente zahlen. Und Sie? Ihre Generation zerstört unsere Zukunft.“
Sie war sich bewusst, dass das Thema „Umwelt- und Klimaschutz“ für viele Jugendliche einen hohen Stellenwert hatte. Das wusste Sie aus den bisherigen Diskussionen in der Klasse sowie aus der im April 2018 veröffentlichten Studie „Zukunft? Jugend fragen“ des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Darin steht:
„Was Umwelt- und Klimaschutz betrifft, besteht ein sehr hohes Problembewusstsein. Jugendliche und junge Erwachsene sind sich klar darüber, dass es um die Lebensgrundlagen und Zukunftsaussichten ihrer eigenen Generation geht. Über Einzelheiten und Zusammenhänge fühlen sie sich jedoch oft unzureichend informiert. Sie bedauern, dass Nachhaltigkeitsthemen in öffentlichen Bildungseinrichtungen nicht den Stellenwert haben, den sie ihrer Meinung nach haben sollten.“
Die der Studie zugrunde liegenden Daten wurden 2017 im Rahmen einer Repräsentativbefragung mit über 1.000 jungen Menschen zwischen 14 und 22 Jahren sowie einer qualitativen Online-Community erfasst. (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, 2018)
Sie wusste auch, dass sich einige Schüler aus ihrer Klasse, bei der Bewegung „Fridays for Future“ engagierten. „Fridays for Future“? Schnell glitten Ihre Finger über die Tastatur und riefen die entsprechende Webseite auf. Dort stand:
“FFF, is a global climate strike movement that started in August 2018, when 15-year-old Greta Thunberg began a school strike for climate. In the three weeks leading up to the Swedish election, she sat outside Swedish Parliament every school day, demanding urgent action on the climate crisis. She was tired of society’s unwillingness to see the climate crisis for what it is: a crisis.
To begin with, she was alone, but she was soon joined by others. On the 8th of September, Greta and her fellow school strikers decided to continue their strike until the Swedish policies provided a safe pathway well under 2° C, i.e. in line with the Paris agreement. They created the hashtag #FridaysForFuture, and encouraged other young people all over the world to join them. This marked the beginning of the global school strike for climate.
Their call for action sparked an international awakening, with students and activists uniting around the globe to protest outside their local parliaments and city halls. Along with other groups across the world, Fridays for Future is part of a hopeful new wave of change, inspiring millions of people to take action on the climate crisis, and we want you to become one of us!” (Fridays for Future, 2021)
Ausgerechnet einer ihrer Schüler, Henrik, hatte sich aktiv für die Teilnahme ihrer und der naheliegenden Schulen an der freitäglichen Demonstration während des Unterrichts engagiert.
Herr Müller, der Direktor war - als er davon erfuhr - in ihren Unterricht gestürmt und hatte mit Verweisen gedroht.
Die Klasse, die sich um Ihre Zukunft betrogen und ungerecht behandelt sah, hatte zuerst mit lautstarkem Protest und dann hauptsächlich mit Resignation reagiert. Schule war doof und keiner verstand sie.
Keiner verstand sie.
Der Blick von Frau Neumann fiel auf einen Bilderrahmen an der Wand neben ihrem Tisch. Darin war die “World Scientists' Warning to Humanity” eingerahmt.
Die Erklärung wurde 1992 von 1600 Wissenschaftlern, darunter 102 Nobel Preisträgern aus 70 Ländern unterzeichnet.
“Human beings and the natural world are on a collision course. Human activities inflict harsh and often irreversible damage on the environment and on critical resources. If not checked, many of our current practices put at serious risk the future that we wish for human society and the plant and animal kingdoms, and may so alter the living world that it will be unable to sustain life in the manner that we know. Fundamental changes are urgent if we are to avoid the collision our present course will bring about.” (Union of concerned Scientists, 2019)
Der Rahmen mit dem Zitat war ein Relikt aus ihrer Sturm-und-Drang-Zeit. 1992 weilte sie im Rahmen eines Schüleraustausches in Spanien. Damals, am 3. Dezember, lief der Tanker Aegean Sea vor der spanischen Küste auf einen Felsen und verlor etwa 80.000 Tonnen Rohöl in der Bucht von La Coruna. Die Küste Galiciens wurde auf einer Länge von 200 Kilometern verschmutzt. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Schockiert und mit dem Wunsch etwas zu tun, war sie zurückgekehrt. Sie hatte diskutiert, protestiert und das Zitat eingerahmt.
Das war damals.
Nun war sie Lehrerin. Und in der im April 2018 veröffentlichten Studie „Zukunft? Jugend fragen“ formulierte das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit die Erwartungshaltung, dass die Lehrkräfte der Bildungsinstitutionen nachhaltiges Handeln vorleben und entsprechende Lerninhalte vermitteln.
„Junge Menschen verbringen viel Zeit in Bildungsinstitutionen. Sie erleben dabei, welche Rolle Umwelt- und Klimaschutz in der Schule, der Universität oder ihrer Ausbildungsstätte spielen. An diesen Orten bietet sich einerseits die Chance, dass nachhaltiges Handeln ganz praktisch erfahrbar gemacht wird, indem es beispielsweise von Lehrerinnen und Lehrern vorgelebt wird. Andererseits sieht das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) vor, dass Lerninhalte mit Nachhaltigkeitsbezug wie Klimaschutz und Biodiversität in allen Bildungsbereichen verankert werden. BNE ist ein weltweites Programm der UNESCO mit dem Ziel, nachhaltige Entwicklung für alle Altersstufen und für formale wie auch non-formale Bildungsformen zu fördern und in den Bildungsbereichen zu verankern. Im Rahmen von BNE sollen die Lernenden Gestaltungskompetenzen für nachhaltiges Handeln erwerben. Sie sollen in die Lage versetzt werden, aktiv und eigenverantwortlich die Zukunft mitzugestalten und so zu einer gerechten und umweltverträglichen Entwicklung der Welt beizutragen zu können.“ (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, 2018)
Es war also an ihr, nachhaltiges Handeln vorzuleben und entsprechende Lerninhalte zu vermitteln.
Sie fasste Ihre Gedanken zusammen.
Die Warnsignale zum Zustand der Umwelt aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft waren lange ignoriert worden.
Das oberste deutsche Gericht verordnete der Gesetzgebung zum Klimaschutz Nachsitzen.
Die Politiker waren gedanklich mit dem Wahlkampf beschäftigt.
Und sie musste morgen vor die heranwachsende, problembewusste Generation treten, die für die Erhaltung der Umwelt auf die Straße ging.
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Wie konnte sie in dieser komplexen Problemsituation Ihren Lehrauftrag zur Bildung für nachhaltige Entwicklung mit Lerninhalten zum Nachhaltigkeitsbezug wie Klimaschutz und Biodiversität erfolgreich umsetzen? |
Sie saß an ihrem Tisch und fühlte sich mit einer sehr großen Aufgabe alleingelassen. Wie damals.
„Nach unserer Überzeugung gibt es
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