Makral erkannte Laoch an den Schritten.
»Guten Tag, Makral.«
»Guten Tag, Loach. Wie geht es dem Obersten der Schergen?«
»Man hat so seine Sorgen, lieber Makral, Oberster der Wache.«
Man konnte nicht unbedingt sagen, dass die beiden Freunde waren, aber da sie vergleichbare Positionen begleiteten, war eine gewisse Nähe durch die Ähnlichkeit der Alltagsprobleme entstanden. Man konnte ja einen einfachen Schergen oder eine einfache Wache zum Beispiel nicht fragen, ob man einem Zechpreller eher die Hand abhacken sollte oder ob zwanzig Peitschenhiebe ein angemessenes Maß der Bestrafung waren. So etwas konnte man nur von Oberst zu Oberst angemessen diskutieren.
»Wem sagst du das, Laoch. In letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass die Räte sich nicht nur um ihre Zünfte und Gilden kümmern wollen, sondern gerne mir ins Handwerk pfuschen würden.«
»Das ist interessant, auch meine Leute berichten mir von einer gewissen Unzufriedenheit im Volk.« Loach trommelte nachdenklich mit den Fingerspitzen auf die Mauer des Wachturmes.
Makral schaute von der hoch über der Stadt gelegenen Plattform hinunter in das Labyrinth der Gassen. Menschen und Toraks schlichen wie Ameisen durch die engen Schluchten. Über dem Gerberviertel weit im Süden der Stadt schwebte eine fahle, durchsichtige, grüne Wolke. Offensichtlich brauten sie dort heute ihre Laugen, eine sich monatlich wiederholende Prozedur. Anlass für diese Zunft, nach getaner Arbeit abends ausgiebig zu feiern. Gut so, dachte Makral. Lieber ein fröhlicher Gerber als ein aufmüpfiger Gerber. Obwohl. Dafür waren die Wachen schließlich da. Um die Aufmüpfigen, die Unzufriedenen und die Nörgler daran zu erinnern, dass unter Flanakan die Welt einfach nur schön sein durfte. Laoch mit seinen Spitzeln sorgte dafür, dass sich alle gegenseitig misstrauten. Aber wenn, wie bei diesen unerträglichen Temperaturen, sich die Gemüter der Bürger erhitzten, standen Makrals Wachen bereit, um sie wieder zu beruhigen. Zur Not mit ein bißchen Prügel. Oder abgehackten Ohren. Wozu hatten sie denn sonst die Schwerter?
»Wieso?«, fragte Makral nun den Obersten Schergen.
»Wieso was?« Laoch hatte gerade den Faden verloren.
»Wieso es interessant ist?«
Laoch erzählte von dem widerspenstigen Torak. Dann gäbe es diesen Gefangenen mit dem Aidan-Amulett, so etwas hatten sie schon ein paar Jahre nicht mehr in der Zelle gehabt. Und jetzt die widerspenstigen Räte, das passte alles zusammen.
»Es ist einfach zu heiß, Laoch. Den Leuten steigt die Hitze zu Kopf. Mehr ist es glaube ich nicht.«
»Aber Tsarrs Vision, Makral. Die Sonnenfinsternis. Irgendetwas wird passieren!«
Makral, der wusste, wie Laoch es schaffte, der Obersten Gova gefällig zu sein und ihren Visionen zu Realitätsgehalt zu verhelfen, wirkte nicht überzeugt. »Ist es nicht jeden Sommer so? Wenn ein paar Wochen kein Regen gefallen ist und das Schoff immer dünner und das Winxbrot immer teurer wird, dann werden die Leute eben unzufrieden. Das ist ganz normal.«
»Du hast schon recht, Makral, Oberster der Wache. Aber was sagen deine Leute so, ist es wirklich so wie immer?«
Die Wachen, denen Makral vorstand, patrouillierten durch ganz Haragor und natürlich auch durch die Hauptstadt des Reiches. Sie regelten an den Markttagen das hohe Verkehrsaufkommen, wenn aus allen Teilen des Landes die Rinderkarren nach Conchar strömten und kümmerten sich um die kleinen Streitigkeiten, wenn sich die Händler gegenseitig über den Tisch zogen. Ab und zu gab es Schlägereien. Auch da schritt die Wache ein. Meist reichte allerdings allein der Anblick der schwarz gekleideten Männer, schon erkannten die Bewohner Haragors den wahren Wert von Liebe und Freundschaft und fielen sich um den Hals.
Mit den Schergen war das anders. Man erkannte sie erst, wenn sie, ebenfalls schwarz gekleidet, aber mit dem gelben Axtemblem über dem Herzen, wie aus dem Nichts auftauchten, um einen Unzufriedenen zu verhaften. Zuvor aber waren sie unsichtbar. Sie waren dein Freund, dein Nachbar, vielleicht sogar dein Ehepartner. Sie hörten dir zu, sprachen dir Mut zu, applaudierten. Und erst nach der Verhaftung, dämmerte es dir, dass einer deiner Freunde wohl ein Scherge gewesen sein musste. Welcher war dir aber dann immer noch nicht klar. Aber das war dann gleichgültig.
»Bei meinen Leuten, Laoch, Oberster der Schergen, ist es wie immer. Ein paar mehr Wirtshausprügeleien, einige vorlaute Toraks, aber im Grunde wie jeden Sommer. Deine Leute sollten dir eher berichten können, falls die Leute unzufriedener sind als sonst!« Makral sah Laoch nun an, seine Brauen hatten sich fragend zusammen gezogen.
»Eigentlich alles wie immer«, musste Laoch zugeben. Seine Spione, auch die aus den Randgebieten Haragors, hatten zurzeit keine besorgniserregenden Meldungen geliefert. Sommerloch. Das Übliche.
»Aber diese Sonnenfinsternis.« Laoch grübelte. »Ein Streit der Götter!«
»Die Götter sind da oben, Tsarr ist hier unten. Erzähl ihr von dem jungen Torak. Vielleicht schicken wir ein paar Männer in sein Dorf. Vielleicht braucht Tsarr ein wenig Blut?«
»Du meinst Goiba. Ein Opfer für unsere große Göttin.« Laoch sah Makral streng an, der sich aber davon nicht beeindrucken ließ.
»Ein Opfer für Goiba, natürlich, lieber Laoch, Oberster der Schergen, das habe ich gemeint.« Laoch nickte gnädig.
Vielleicht genügte das ja wirklich, dachte Makral. Noch ein paar tote Toraks und Goiba und damit Tsarr würden beruhigt sein. Und die Sonnenfinsternis bald vergessen. Der Oberste der Wachen konnte mit der Magie im Allgemeinen und den Priesterinnen im Besonderen nicht so viel anfangen. Er vertraute lieber dem Prinzip von Ursache und Wirkung, damit konnte man als normaler Sterblicher relativ weit in diesem Leben kommen.
*
R’lan war eine einfache Wache. Das hieß mehr oder weniger, dass er von morgens bis abends in seiner schwarzen Uniform herumlief. Meist schlief er sogar darin, weil es ja schon irgendwie unsinnig war, die abends auszuziehen, wenn man sie morgens sowieso gleich wieder anzog. Die meisten Wachen hatten eine geringe Breite möglicher Gefühle, eines der Auswahlkriterien, die im Einstellungsgespräch abgefragt wurden. Schließlich sollte man sich nicht von betrunkenen und schreienden Toraks, die gerne das Dreifache des eigenen Gewichtes auf die Waage brachten, beeindrucken lassen. Auch wimmernde alte Frauen, denen man leider all ihr Hab und Gut entwenden musste, wenn sie die Steuern nicht mehr zahlen konnten, sollten einen nicht besonders aufregen. Daher war R’lan auch ziemlich verwirrt über den eigenen Zustand und er hatte schon überlegt, ob er zu einer der Priesterinnen gehen sollte, um sich Rat zu holen. Diese Fröhlichkeit und Leichtigkeit, die er zurzeit verspürte, waren ihm völlig fremd.
Jetzt stand er vor Nandas Zellentür und hörte verzückt ihrem Gesang zu. Alles, was er vorhatte, war streng verboten. Er hatte sich eigenmächtig die Zellenschlüssel aus dem Wachhaus genommen, ohne irgendjemanden Bescheid zu geben. R’lan kannte sich selbst nicht mehr. Wenn sein Tun entdeckt werden würde, würde man ihn im günstigsten Fall entlassen. Wenn er Pech hatte, würde Makral ihn bei Sorb abliefern. Und erst diese Schande, die er über seine Familie bringen würde. Wachmann in der dritten Generation. Aber R’lan war nicht mehr Herr über sich selbst. Da er bisher noch nie verliebt gewesen war, konnte er diese Verwirrung, dieses Zittern, diesen absoluten Kontrollverlust nicht einordnen. Schmetterlinge im Bauch, sagen die einen. Völlige Benebelung, die anderen. R’lan fühlte sich stark, unbesiegbar und voller Sehnsucht. Alles Gefühle, die ihm völlig fremd waren. Vor seinem inneren Auge sah er Nanda in ihrer ganzen Schönheit. Ihre wallenden dunklen Locken, ihre vollen Lippen, ihre smaragdgrünen Augen. Und diese Stimme! Diese göttliche, wunderbare, einmalige Stimme. Tränen standen in R’lans Augen, als er die eisenbeschlagene Eichentür mühsam öffnete. Und so sah er das Holzbrett, auf dem die Gefangenen das Essen bekamen und das Nanda ihn mit all ihrer Kraft auf dem Schädel trümmerte, auch nur sehr verschwommen auf sich zukommen. »Umwerfend«, dachte er, als er im Niederfallen durch den Schleier seiner Tränen Nanda erblickte. »Ich liebe dich«, flüsterte er, bevor er ohnmächtig wurde.
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