Das Giebeldreieck des Gutshauses trug ein kleines Dwalm, und es hatte drei Türen, in der Mitte ein großes Doppeltor und zwei kleine, die zum Kuh- und Pferdestall führten. Ulrike folgte Birte durch den großen Eingang auf die festgeklopfte Diele, wo im Winter das Korn gedroschen wurde. Auf einer Seite drängten sich in Pferchen die Kühe, auf der anderen reihten sich die Raufen und Krippen des Pferdestalls. Es raschelte im trockenen Stroh, eine braune Glucke mit Küken flüchtete vor der einfallenden Sonne hinter die Pferdekrippe. Da Ulrike sich aufmerksam umschaute, hielt es Birte für angebracht, sie auf den Bretterboden über der Diele hinzuweisen: „Das ist der Balken. Der Raum dient der Aufbewahrung des frisch vom Feld kommenden Getreides. Unter der Schräge über den Ställen bewahren wir unser Brennholz auf und natürlich Torf und Stroh.“
Die Herdstelle lag im hinteren Teil der Diele, mit der Rauchfangluke darüber, doch Sibo Aumund suchten sie vergebens. Birtes Mutter war darin vertieft, einen Berg von Wurzelgemüse in feine Scheiben zu schneiden. „Zur Hölle soll er fahren, dieser Scheißkerl von Herold“, schimpfte sie und legte ärgerlich das Messer aus der Hand. „Wie der unseren Vater zur Sau gemacht hat, na hättest mal hören sollen. Sibo sei jung genug für den Frondienst, er solle sich nicht erdreisten, seine Knechte vorzuschicken. Ist deinem Vater ganz schön gegen den Strich gegangen. Aber Gott sei Dank, er lässt sich ja was sagen. Herrgott, wenn der… Na grüß ihn schön.“
Dann wandte sie sich wieder dem Zwiebelbrett zu, und sie mussten einen kurzen Spaziergang auf sich nehmen, um mit ihm zu sprechen, und auf der langen Wegstrecke über den Ochtumsdeich dachte Ulrike über ihren Vater nach. Lüder vermochte zu schweigen wie ein Grab, aber den Mund ließ er sich nie verbieten, und sie liebte ihn dafür. Was könnte einem solchen Menschen bitterer schmecken, als hinterher klein beizugeben? Alle, die ihn für seine Unbeugsamkeit bewunderten, würden bald heimlich mit dem Finger auf ihn zeigen.
Es stank nach einem Exempel, ganz ohne Daumenschrauben und Peitsche. Seine gereizte Art und die nassen Augen passten nicht zu ihm, das ließ ihr keine Ruhe. Ihr Blick streifte mit klammem Herzen die überschwemmten Ufer der Ochtum, und sie fühlte sich an eine gruselige Geschichte erinnert. Eike erwähnte kürzlich, in Friesland erzählten die Eltern ihren Kindern gern vom Drängler, damit sie rechtzeitig vom Spielen den Heimweg antraten. Ein gespenstisches Wesen mit nassen Armen geisterte plötzlich durch ihre Gedanken. Es lauere an den entlegenen Deichstrecken dem späten Spaziergänger auf, und auch in Stedingen war schon so mancher Wandergeselle auf rätselhafte Weise von heute auf Morgen spurlos von der Bildfläche verschwunden. Zeugen gab es nicht. Wem er begegnete, der endete ja in der Ochtum. Der Drängler zieht und drängt sein Opfer unbarmherzig zum Wasser, und wen es trifft, der fühlt sich entsetzlich beengt, wie mit schweren Ketten umschlungen. Vergebens klammert das Opfer sich an Baum und Strauch, wehrt und sträubt sich. Ein Rangeln auf Leben und Tod wird daraus, ehe die Kraft schwindet und das grässliche Wesen den Erschöpften ersäuft. Was der Graf ihrem Vater antat, lief auf das Selbe hinaus, er brach seinen Lebensmut und trieb ihn in die Verzweiflung.
Nach dem überfälligen Wolkenbruch kam die Sonne wieder durch, da erschienen die vier Mädchen auf der Rodung am Hemmelskamper Wald. Die hübsche Birte Aumund sorgte für Pfiffe und anzügliche Sprüche unter den Männern.
„Das ist die Tochter von Sibo“, tuschelte einer der breitschultrigen Burschen, die sich um Eike von Bardenfleth scharten.
„Heda, Rike“, rief Eike sie an, und Ulrike hob das Kinn. Sie ahnte, was ihm das Herz schwermachte und wandte sich Birte zu, als sei sie anderswo gefordert, da stemmte er enttäuscht die Arme in die Hüften.
Überall lagen Birkenstämme im Heidekraut, und fleißige Hände befreiten sie von den Zweigen. Während Ulrike mit Wibke und Timke darüber hinweg stelzte und Birte Ausschau nach ihrem Vater hielt, klang wieder das Hämmern der Äxte über die Heidefläche an dem immer ansehnlicher werdenden Kahlschlag am Birkenwald. Sibo reckte lächelnd den Kopf und ließ die Axt sinken. Seine Tochter und drei junge Mädchen steuerten ihn an. Der Mann, der einen der zwanzig reichsten Höfe im Stedinger Land besaß, ähnelte oberflächlich Birtes kleinem Bruder Klaas, doch das Leben hatte ihn gezeichnet, sein Haar war schon grau und schütter wie das Seggegras am Weserstrand. Eine kurze Erklärung genügte, ihm Einblick in den Sachverhalt zu vermitteln. Er schlug Ulrike vor: „An deines Vaters Stelle würde ich das Angebot des Grafen annehmen. Auf einer Burg sind ständig Pferde zu beschlagen und Rüstungen auszubessern.“
„Er will das ums Verrecken nicht“, beteuerte Ulrike hastig.
Davon wollte Sibo Aumund nichts hören und redete gelassen weiter. „Bestelle ihm einen gut gemeinten Gruß. Ich bin gewillt, euch und auch Lüder unterzubringen, und ich helfe gern. Aber ihr müsst einsehen, ich kann euch nicht auf Dauer umsonst durchfüttern. Darum werdet ihr euch nützlich machen auf dem Hof. Unser Großknecht wird euch einweisen. Und Lüder soll mir, so oft die Schmiede etwas abwirft, ein paar Silberpfennige abgeben, das ist billig.“
„Ich will es ausrichten“, versprach Ulrike erleichtert, aber sie wusste um den Starrsinn des Vaters.
„Gut Mädchen. Und mach‘ ihm klar: Andernfalls wird Graf Moritz einen fremden Schmied auf die Burg holen, und der wird fett werden im Dienst des Oldenburgers. Er aber wird als zweiter Schmied von Berne leben wie ein Bettelmann. Es ist ein Gebot der Klugheit, solch ein Angebot nicht abzulehnen.“
Erleichtert nickte Ulrike. Nun lag an Lüder wie es weiterging mit ihnen… und ihr selbst mangelte es nicht an der nötigen Einsicht.
Wibke entgegnete für sie: „Er braucht doch bloß seinen Männerstolz einmal hintenan zu stellen. Meine Güte, für uns, uns zu Liebe. Das wird er sich von mir zumindest anhören müssen.“
„Von mir auch“, fügte die Kleine bei, und Sibo stimmte es vergnügt. Seine Worte fielen bei den Mädchen auf fruchtbaren Boden, und ihr Vater war alt genug, zu begreifen, er konnte sich bei drei aufgeweckten Töchtern nicht einfach in Schweigen hüllen.
Aber ihr Vater tat sich schwer, eine Entscheidung zu fällen. Wenigstens zeigte er sich so weit einsichtig, Ulrike nahe zu legen, sie sei alt genug, aus dem Haus zu gehen. Den alten Hausstand zu räumen wollte er sich nicht durchringen. Lüder stellte es Wibke und Timke frei, ob sie bis zum letzten Tag in der Schmiede wohnen wollten, oder es vorzogen, sich mit seiner Ältesten bei den Aumunds einzuquartieren.
So ergab es sich, dass Birte die Freundin nach dem gemeinsamen Mittagstisch zu sich winkte und einlud, in ihr kleines Gemach neben der Diele. Ulrike offenbarte sich eine ihr bisher fremd gebliebene Welt. Sie fühlte verunsichert über die Oberkante der fein gedrechselten Kommode. Ein ebenso vorzüglich gearbeiteter, turmartiger Schrank nahm die Ecke an der Tür ein. Sie konnte den Blick gar nicht wieder davon losreißen; hinter kleinen Glastürchen schimmerte feines, blau marmoriertes Geschirr, und obendrauf eine Elfenbeindose mit einer zierlichen Gravur um den Deckel.
„Sag‘ mal Rike“, fragte Birte sie unter vier Augen, „hast du schon eine Vorstellung, was du anziehst, morgen nach dem Kirchgang, wenn der Festplatz geschmückt wird?“
Überrascht blinzelte Ulrike. „Warum fragst du? Na den Kittel hier.“
Die Freundin betrachtete sie kopfschüttelnd und zeigte auf eine runde Eichenholzscheibe, die zum Backen diente und auf der Kommode stand. „Nimm dir. Es ist gewöhnlicher Butterkuchen, aber aus unserem eigenen Backofen, ich bin stolz darauf.“
Das ließ sich Ulrike nicht zweimal sagen. Butterkuchen bot sich sonst bloß auf Hochzeiten oder Beerdigungen. Ungehemmt langte sie zu und merkte, Birte musterte sie von oben bis unten.
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