Zu Josef hingewandt sprach er: „Lasst uns gemeinsam beratschlagen, wie wir nun verfahren, bevor er womöglich erneut verhaftet wird. Er ist jetzt ein geflüchteter Sträfling. Man hat jederzeit das Recht, ihn zu ergreifen, wo immer man seiner habhaft werden kann. Wer von euch hat ihn gesehen? Wo könnte er sich aufhalten und wie können wir ihn beschützen?“
Die fröhliche Stimmung wich der Beklommenheit. Der Römer hatte Recht. Die Gefahr war nicht vorüber. Jederzeit konnte er erneut verhaftet werden.
Josef ergriff das Wort. Er sprach laut ein Gebet, bat um Schutz für ihren Meister und segnete die Versammelten. „Wenn jemand etwas zu sagen hat, so soll er nun vortreten.“
Langsam erhob sich Stephanus, der stille junge Mann, den jeder gern mochte, der aber nie vor versammelter Gemeinde sprach. Er hob eine Hand zum Himmel und sprach mit leiser Stimme ein Dankgebet, dass die Befreiung des Meisters gelungen war.
„Ich habe in dieser Nacht geträumt, dass er in die Wüste gegangen ist. Ganz allein, ohne Begleitung. In meinem Traum war ein Löwe an seiner Seite. Er begleitete den Meister wie ein zahmer Hund. Als ich am Morgen erwachte, hörte ich schon das Gerücht von seinem Verschwinden. Ich glaube, dieser Traum ist ein Zeichen. Wir sollten beten und dem Meister in Gedanken eine Botschaft senden. Er hat uns immer wahrgenommen. Vielleicht kommt er zu uns.“
Die Versammelten nickten zustimmend.
Josef hatte sich wieder erhoben. „Wenn er in die Wüste gegangen ist, wird er vor Verfolgern sicher sein. Aber wenn er in die Stadt zurückkommen sollte, werden sie ihm sofort den Prozess machen, damit er ihnen nicht noch einmal entwischt. Wir müssen versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten.“
Alle Augen richteten sich auf Maria Magdalena. Sie hatte stets den besten Kontakt zu ihm gehabt. Erschreckt blickte sie auf. Langsam strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie sprach leise und betont.
„Ich weiß, dass er lebt, aber er hat noch wichtige Aufgaben, bevor er wieder zu uns kommen kann. Ich kann euch nicht sagen, was es ist.“
Die ganze Nacht hindurch hatten sie gebetet und gesungen. Einige von ihnen waren eingeschlafen. Ihre Köpfe waren auf die verschränkten Arme gesunken. Simon hatte draußen gewacht. Er hatte die Aufgabe, das Gelände im Auge zu behalten und das Tor zu verschließen. Bei jedem Geräusch fuhr er zusammen. Alle hatten ihre Zuversicht und Hoffnung darauf gesetzt, ihren Meister bald wiederzusehen. Der Prokurator hatte ihnen die Augen geöffnet. Sie mussten verhindern, dass er in die Stadt zurückkehrte. Solange dies nicht geschah, konnten sie ihn nicht verhaften.
Spät in der Nacht war Pontius Pilatus aufgebrochen. Josef hatte ihn bis zum Tor begleitet. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass ein Römer ihnen helfen würde, noch dazu der Statthalter. Jetzt, wo sie ihn kennen gelernt hatten, glaubten sie seinen Absichten, wenngleich ihm in diesem Fall die Hände gebunden waren.
Sie diskutierten noch eine Weile, ehe Stephanus einige Gesänge anstimmte, die sie immer zusammen gesungen hatten.
Es mochte schon bald Morgen sein, als alle eine seltsame Unruhe erfasste. Simon war auf seinem Wachtposten eingeschlafen. Jetzt, wo sie sich im Hof drängten, erwachte er. Was war geschehen?
Entsetzt sprang er auf. „Simon, hast du schlecht geträumt?“, rief jemand zu ihm herüber.
Er konnte sich nicht an seine Träume erinnern, aber er spürte, dass etwas in der Luft lag, etwas geschehen würde. Noch immer hatte er Angst, dass auch einige von ihnen verhaftet werden könnten. Schon um aus ihnen herauszupressen, wo der Meister sich versteckt halten könnte. Erschöpft ließ er sich wieder auf den Stein am Brunnen fallen.
Die Nacht war lau, Grillen zirpten und der würzige Duft der Kräuter erfüllte die Luft. Miriam brachte ihm einen Krug Wasser und einige Stücke Melone. Ihr Gesicht wirkte schmal und ihre Augen dunkler als sonst.
Mit einem Mal stand Josef im Hof. Er hatte den Kopf erhoben und wies zum Himmel. Eine große Anzahl von Sternschnuppen durchzog den Himmel mit leuchtend gelben Linien. Wann mochte er kommen?, so fragten sie sich.
Judas hatte sich die lederne Kappe der Zeloten aufgesetzt. Er wollte zurück in die Stadt, um nach Neuigkeiten Ausschau zu halten. Er war ruhelos und die lange Zeit des Betens hatte ihn noch nervöser gemacht, als er es sowieso schon war. Kaum war er durch das Portal getreten, als er sich irgendwie beobachtet fühlte. Unbehaglich drehte er sich um, doch niemand war zu sehen. Hastig griff er nach dem Strick, mit dem er den Esel an der Mauer befestigt hatte. Er fühlte Angst in sich aufsteigen und trieb den Esel zur Eile an. Als er die Anhöhe erreichte, wo ein dichter Wald den Weg dunkel und unübersichtlich machte, hieb er dem Esel in die Flanken, sodass dieser, so schnell er es vermochte, über das Geröll des Weges stolperte.
Eine panische Angst hatte ihn nun ergriffen. Er wusste nicht genau, was sie hervorrief, aber er spürte, dass er verfolgt wurde. Am Ende des Waldes erhellte der Vollmond den Weg, der sich nun entlang des Hügels im Tal schlängelte. Seine schweißnassen Hände umklammerten die Zügel. Er hörte die Stimme des Meisters, die ihn rief, aber die Stimme war nur in seinem Kopf. Der Weg war hier weniger steinig, und die Nadeln der Pinien dämpften die Geräusche trappelnder Hufe.
Judas setzte seinen Weg unbeirrt fort, obwohl die Angst ihm beinahe die Kehle zuschnürte. Immer wieder blickte er sich ängstlich um. Jeder Schatten konnte einen Angreifer verbergen. Mit ganzer Kraft rief er sich zur Ordnung.
Woher sollte jemand wissen, dass er hier war, diesen Weg wählte? Er würde bald bei seinen Freunden in der Stadt eintreffen. Allein dieser Gedanke hielt ihn aufrecht. Der Esel spürte seine Verfassung. Unruhig warf er den Kopf hin und her. Seinen Dolch hatte Judas unter seinem Gewand stets griffbereit. Schon einmal war er in eine derbe Prügelei geraten, als einige von ihnen öffentliche Diskussionen führten. Er war nicht zögerlich damit, seine Faust zu gebrauchen oder, wenn es sein musste, zum Dolch zu greifen.
Als es hell geworden war, erreichte er die Stadt, die noch ruhig vor ihm im trüben Sonnenlicht lag. Er hörte einige Hähne krähen, als er durch das nördliche Stadttor ritt. Immer wieder misstrauisch nach allen Seiten spähend, erreichte er das Haus seines Freundes Aaron.
Er war Handwerker wie er selbst und oft schon früh am Morgen in der Werkstatt, bevor die Hitze des Tages zu groß wurde. Er fand ihn über stinkende Bottiche gebeugt, wo das Leder mit scharfer Lauge vorbereitet wurde. Aaron fertigte aus Leder allerlei Gegenstände an, breite Gürtel, Kappen und Taschen, die seine Frau auf dem Markt verkaufte.
Überrascht hob er den Kopf, als er Judas im Dämmerlicht des niedrigen Raumes auftauchen sah.
„Nanu, du hier?“, entfuhr es ihm, statt ihn, wie es die Zeloten taten, mit einem Schulterschlag zu begrüßen.
Er mochte es in Judas Gesicht bemerken oder einfach nur seinem inneren Impuls folgen, jedenfalls umarmte er den Freund still und schob ihn zur Tür hinaus in Richtung seiner Behausung, wo schon ein frühes Mahl gerichtet wurde.
Sheila, seine Frau, stand am Feuer und briet Brotfladen, die den Raum mit einem köstlichen Duft füllten. Erleichtert ließ Judas sich auf einen Schemel fallen.
In kurzen abgehackten Sätzen erzählte er von der Versammlung, ohne jedoch zu erwähnen, wo sie zusammengetroffen waren. Seine Freunde hatten oft aufmerksam zugehört, wenn er von dem wundersamen Nazarener erzählte. Doch hatten sie nie so recht Zutrauen zu seinen Schilderungen. Zu seltsam waren seine Lehren und Heilungen. Aaron war ein Mann der Tat. Solange niemand kam, um handfest etwas gegen die römische Besatzung zu unternehmen, war er nicht bereit, einem dieser Wundertätigen zu folgen. Er hielt Judas insgeheim für zu gutgläubig. Er ließ sich schnell etwas vormachen, so lautete sein Urteil.
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