„Nehmt meinen Leib und nehmt auch mein Blut als mein Geschenk an euch, damit ihr wirkt wie ich und lehrt, wie ich es tat.“
Damit verschwand die Kraft so plötzlich, wie sie gekommen war. Alle hielten sich bei den Händen, wie um einander zu stützen und ihre Verbundenheit auszudrücken. Simon erhob sich zögernd vom Boden. Er strich sein Gewand glatt und setzte sich still auf seinen Stuhl. Tränen rannen über sein Gesicht.
„Warum nur?“, murmelte er. „Warum dieses Opfer?“
Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Maria Magdalena hatte sich umgewandt und blickte die Versammelten geradewegs an.
„Er ist bereit, den bitteren Weg zu Ende gehen, aber es wird nicht das Ende sein. Glaubt mir, meine Freunde, ich spüre es ganz stark. Er will die Prophezeiung vollenden, aber er tut es auf seine Weise. Wir müssen ihm helfen. Wir sind es, die den entscheidenden Teil dazu beitragen müssen. Glaubt mir, meine Brüder, es ist an uns, die Wege zu ebnen und dies möglich zu machen.“
Weinend brach sie zusammen. Sie hatte die kommenden Ereignisse im Voraus erschaut und war darüber zusammengebrochen. Aber sie hatte auch gesehen, dass es ganz anders kommen würde, als alle es bisher angenommen hatten. „Fürchtet euch nicht“, murmelte sie, wie um sich selbst zu beruhigen. „Er wird sein Werk vollbringen und wir werden daran teilhaben.“
Abdul Ben Massa erhob sich. Zögernd blickte er sich um, ob er sich als fremder Gast würde zu Wort melden dürfen. Doch in seinem Inneren wirbelten die erfahrenen Eindrücke, die er nicht für sich behalten konnte.
„Ich habe ihn gesehen“, stammelte er. „Er hatte die Wundmale des Gekreuzigten, aber er lebte. Er wird es überleben“, stieß er hervor. Er war sich so sicher, dass Freude in ihm aufkeimte.
„Er wird es überleben. Er ist der Meister über Leben und Tod und es obliegt ihm, darüber zu entscheiden.“
Jetzt waren alle wie elektrisiert aufgesprungen. Sie spürten, dass Hoffnung in ihnen aufkeimte. Sie mussten nur fest genug daran glauben, so, wie er es sie gelehrt hatte. Dann würden auch genau diese Ereignisse eintreten. Sie hielten einander an den Händen, um ihren Glauben daran zu verstärken und mit aller Macht in die physische Welt zu holen. Die Hoffnung gab ihnen Kraft und sie wussten, dass es möglich war.
Die Wächter hockten am Boden und würfelten. Jeder von ihnen hatte einige Münzen vor sich liegen. Der Weinschlauch kreiste und sie nahmen einen Schluck, bevor sie sich wieder dem Spiel widmeten.
Der Älteste von ihnen war schon seit Jahrzehnten Wärter im Gefängnis des Herodes. Er hatte schon dem vorigen König gedient, und sein Leben spielte sich beinahe völlig in den Gefängniskatakomben ab, wo er täglich seinen Dienst versah. Es gab nichts, was ihn schockierte, kein Leid, das ihn rührte. Er war meist im Rotweinrausch und auch den beißenden Gestank nahm er kaum wahr. Wenn er nicht in den Gängen patrouillierte oder dafür zu sorgen hatte, dass neue Inhaftierte in die Zellen geworfen wurden, vertrieb er sich die Zeit damit, kleine Holzfiguren zu schnitzen. Meist hatten sie grässliche Fratzen und sahen kleinen Dämonen ähnlich. Er hatte Freude an den schauerlichen Figuren.
Heute hatte er Gesellschaft, denn die Riege der Wachtposten war verstärkt worden. Dies kam nur selten vor, denn wer sollte sich schon aus Ketten und verschlossenen Zellen befreien können? Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, hatte es mit dem Passahfest zu tun. Die Zellen waren mehr als überfüllt, auch jetzt noch, wo die ersten Prozesse stattfanden und stündlich Gefangene abgeholt wurden, um vor dem Tribunal ihre Strafe zu erfahren.
Das Volk johlte auf dem Vorplatz. Es war eine beliebte Sensation, den öffentlichen Auspeitschungen und Folterungen zuzusehen. Der Platz für die Steinigungen lag weiter draußen, und auch dort hatte sich, wie jedes Mal, viel Volk versammelt. Er hörte von fern, die Mauern waren dick und ließen nur wenige Geräusche von draußen durch, wie das Volk grölte, wenn wieder einer der Sträflinge strauchelte und zusammenbrach.
Quintus war einer der neuen Wächter. Er hatte schon an anderer Stelle für Herodes gedient. Obwohl er Römer war, ließ er sich für Geld anheuern und erfüllte auch die schmutzigsten Dienste, wenn nur genug dafür gezahlt wurde.
Er bohrte mit den Fingern in seinen Zähnen. Er hatte alles Zivilisierte, das die Römer ausmachte, aufgegeben. Sein Bart war lang und verkrustet und sein Haar, hellbraun und gelockt, fiel strähnig an seinem Kopf herab. Er hatte stets ein Würfelspiel bei sich, um sich die Zeit zu vertreiben. Sein Dienstherr hatte ihn den Wachen des Kerkers zur Seite gestellt, weil man befürchtete, dass der verrückte Gefangene womöglich gewaltsam befreit werden könnte. Er hatte dies nur am Rande vernommen, als sein Dienstherr sich mit dem Kommandanten des Gefängnisses unterhielt.
Alle waren gespannt, wann man ihm den Prozess machen würde. Es ging die Kunde um, er könne sich unsichtbar machen und durch Wände gehen. Man würde für den Prozess besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen, denn die Anhängerschaft war beträchtlich und man wollte sichergehen, dass keine Unruhen ausbrachen.
Quintus hatte zum fünften Mal gewonnen, was seine Mitspieler sehr verdross. Sie murrten und nannten ihn einen Gauner, der das Spiel zu seinen Gunsten zu lenken vermochte. Er hatte schon zuviel des Weines und war dadurch streitlustig geworden. Er packte einen der anderen Wächter am Hals und bohrte ihm seinen Daumen in die Kehle. Der Arme schrie vor Schmerz laut auf und raffte seine verbliebenen Münzen zusammen, nachdem er von ihm abließ.
Der Schrei hatte die Gefangenen aufgeweckt. Ein Kettenrasseln, gefolgt von lauten Rufen nach Wasser und Brot, brach aus. Eine unnötige Störung, wo sie doch gerade erst angefangen hatten zu würfeln. Die nächste Runde sollte entscheiden, wer den stündlichen Rundgang durch die Gefängnisgänge machen sollte. Der Verlierer würde mit dem Stock und dem Öllicht durch die stinkenden Gänge patrouillieren und den Schreihälsen das Maul stopfen, indem er ihnen den Knüppel in die Rippen stieß.
Gerade war der Dritte von ihnen an der Reihe, als ein großes Geschrei ausbrach. Laut hörten sie die Ketten an die Gittertüren donnern. Auch das noch, dachte Quintus, den der Wein müde und schläfrig gemacht hatte.
„Was soll der Lärm“, schrie er hinüber zu Aaron, der gerade seine letzten Schekel zusammenraffte, bevor im Tumult einer der anderen danach greifen würde.
Quintus packte sein Schwert, um nach dem Rechten zu sehen, als zwei Wächter, die am anderen Ende des Ganges Dienst taten, auf ihn zugestürzt kamen.
„Er ist fort“, schrien sie. „Er ist einfach durch die verschlossene Tür gegangen.“ Von allen Seiten hörten sie laute Schreie und Getöse. Die Wächter waren, so schnell sie konnten, herbeigeeilt, um zu sehen, was da vor sich ging. In allen Zellen drängten sich die Gefangenen dicht an die Gittertüren, um einen Blick zu erhaschen.
Quintus rieb sich gähnend die Augen. Wahrscheinlich war es dieser Wahnsinnige, der diesen Tumult verursachte. Er würde ihn ein wenig zur Raison bringen und sich gleichzeitig diesen Verrückten einmal näher anschauen.
Er torkelte hinter den anderen her, die enge Treppe nach unten, von wo das lauteste Geschrei ertönte. Die Wärter hieben mit Knüppeln auf die Gefangenen in den Zellen ein, sodass diese entsetzt zurückwichen.
In der Zelle, wo der Verrückte sein musste, war alles still. Die verdreckten Gestalten knieten auf dem Boden oder kauerten in der Ecke. Keiner von ihnen gab den geringsten Laut von sich. Sie schienen wie gelähmt, völlig abwesend zu sein.
Er stieß die Tür auf und schrie in die Zelle hinein: „Wer ist der Verrückte aus Nazareth?“ Doch es kam keine Antwort zurück. Die anderen Wächter drängten sich am Eingang. Keiner mochte die Zelle betreten. Sie fürchteten einen Hinterhalt, einen bösen Zauber oder sonst etwas Grauenvolles. Die lähmende Atmosphäre irritierte sie.
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