Liebend gerne wäre sie stundenlang so weiter durch das Watt gezogen, aber der Rucksack drückte ihr unangenehm auf den Schultern und die Schuhe in der Hand schränkten ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich ein. Sie lenkte ihre Schritte Richtung Strand, hob eine große weiße Muschel auf und stapfte durch ihr Gepäck beschwert durch den Sand zurück.
Wenn sie die Sachen im Haus abgeladen hatte, würde sie wiederkommen.
Sie hatte vor, die Zeit, die sie hier sein würde, fast gänzlich am Strand zu verbringen, das Meer zu beschauen, den Himmel zu sehen, die Sonne zu spüren. Wind zu schmecken und Wasser zu riechen. Sich fallen zulassen und in sich zu horchen, sich selbst zu begegnen und Klarheit zu finden. Bilder, Gedanken und Ideen. Oder auch nur die Stille und Ruhe des Augenblicks.
Ohne Zwang, ohne Druck, ohne Ziele. Und dann – wer wusste schon, was kommen würde. Sie wollte Vertrauen gewinnen, Zuversicht und Glauben. An sich, an das Leben.
Die Sachen in ihrem Rucksack waren allesamt zerknüllt, sauber zwar aber ohne Sorgfalt hineingestopft, wahllos auch und ohne Überlegung. Ihr Aufbruch war recht überstürzt geschehen und hatte ihr nicht viel Zeit zum ausgiebigen Planen gegeben. Doch ihr Lieblingskleid mit den schmalen, fliederfarbenen Streifen fand sich inmitten des Kleiderknäuels und Marissa tauschte es sofort gegen das Blumengewand der Großmutter aus. Gleich fühlte sie sich mehr als sie selbst.
Das altmodische Kleidungsstück hatte ihr gleichsam ein Stück Vergangenheit angezogen, in der sie sich irgendwie unwohl fühlte. Als ob an dem Stoff etwas haftete, das sie in einen Strudel von gestrigem Geschehen ziehen wollte. Erst hatte sich alles so weich und luftig angefühlt und als sie über den Strand gelaufen war, war es gewesen als könne sie gleich davonfliegen. Aber hinter dieser Leichtigkeit war auch etwas Dunkles, Schweres zu spüren, was sie frösteln ließ.
Jetzt wo sie ihr eigenes Kleid anhatte und das alte neben ihr auf dem Boden lag, merkte sie den Unterschied. Irritiert nahm sie dieses in die Hand, befühlte es, drehte es hin und her als erwarte sie, etwas zu entdecken. Aber da war nichts. Es war nur ein Kleid.
Sie schüttelte den Kopf, nahm einen Bügel aus dem Schrank und hängte das Kleidungsstück hinein. Dann sortierte und faltete sie oberflächlich ihre mitgebrachten Sachen, legte sie ebenfalls in den Schrank, verstaute unten den Rucksack. Dann lief sie die Treppe hinunter in die Küche. Sie hatte es plötzlich ganz eilig. Die Großmutter erwartete sie schon, hielt ihr einen Beutel entgegen und meinte: “Du willst doch sicher den Tag am Strand verbringen. Ich hab dir etwas Proviant zusammengepackt.“
Marissa nahm den Beutel und drückte die Großmutter an sich. „Du bist lieb, Oma. Ist es dir denn recht, wenn ich dich einfach so alleine lasse?“
Die warme Hand der Großmutter legte sich liebevoll auf die Wange der Enkelin.
„Ich bin es gewöhnt, allein zu sein. Wenn du später wiederkommst, freue ich mich auf eine nette Unterhaltung. Genieß die Sonne und lass Gedanken, Gedanken sein.“ „Danke, Oma“. Marissa küsste sie leicht auf die Wange. Der lächelnde Blick der alten Dame begleitete sie über den Pfad hin zum Strand.
*
Die Morgensonne war von der Terrasse weggewandert über die Beete und Gewächse, hin zu den Heckenrosen, wo es von Insekten summte.
Von ihrem Platz auf der Bank, die nun angenehm im Schatten lag, genoss die alte Dame den prachtvollen Anblick ihres wilden Gartens. Er war ihre Freude und angenehme Beschäftigung, die ihr allerdings zunehmend schwerer fiel, was sie aber kaum zugegeben hätte. Manchmal ging es recht langsam voran mit Jäten, Unkrautzupfen, Schneiden und Pflücken. Doch die Pflanzen schienen es dieser Langsamkeit zu danken, indem sie üppig wuchsen und gediehen ohne mangelnde Pflege gleich mit Welken oder Verdorren zu beantworten. Als ob sie damit zufrieden waren, überhaupt da zu sein und ihrer Gärtnerin Lebensfreude zu schenken.
Der Garten und das alte Haus waren es, was ihr geblieben war. Vieles hatte sich im Laufe der vergangenen Jahre verändert, Menschen waren aus ihrem Leben verschwunden, die ihr viel bedeutet hatten, Umstände und Lebenssituationen waren andere geworden.
War es Schicksal oder Vorsehung, was alles so kommen ließ wie es kam? Emilia dachte kaum mehr darüber nach, nahm jeden Tag wie er war, ließ geschehen, was geschah. War zufrieden mit dem, was sie hatte und lebte jeden Augenblick als einmalig und einzigartig. Das machte sie zu einem zufriedenen, dankbaren Menschen. Wenn sie ein Wort für ihr jetziges Leben verwenden sollte, konnte ihr nur das Wort „Glück“ über die Lippen kommen.
Der Weg hin zum „Glück“ war lang gewesen, hatte ihr viel abverlangt und sie manchmal daran zweifeln lassen, dass sie ein Gefühl von Glück jemals erleben würde. Alt musste sie werden, um es zu erreichen und um zu erkennen, dass ihr das Glück trotz allem Unglück, das sie überstehen musste, immer zur Seite gestanden und über alle Widrigkeiten hinweggetragen hatte.
Jetzt wünschte sie sich nur noch, dieses Wissen um das Glück weiterzugeben an die, die es gerade nicht spüren konnten, die meinten, es wäre von ihnen gewichen. Sie wünschte, sie könnte es irgendwie verpacken und wie ein Geschenk vor sie stellen, damit sie es sahen und annahmen.
Zu allererst hätte sie es am liebsten ihrer Tochter Juliane überreicht, die es, wie sie fand, am nötigsten hatte. Aber sie wusste, sie würde dieses Geschenkglück nicht sehen, auch wenn es ganz nah vor ihr schweben würde. Sie würde einfach daran vorbeilaufen, blind und eilig.
Aber Marissa, ihre Enkelin mit dem jugendlichen Lebenssinn, die würde es wohl sehen. Bei ihr würde sie leichter Erfolg haben damit, ihr zu zeigen, dass trotz all dem schmerzvollen Leid, das ihr schon begegnet war, auch eine Helligkeit daneben stand. Und dann – so hoffte Emilia, würde dieses Erkennen auch die Augen ihrer Tochter öffnen. Ihre Augen – und ihr Herz. Es konnte nicht sein, dass sie sich dem Leben entzog. Und sich und die Tochter vergaß. Die Tochter, die noch da war und so viel Leben vor sich hatte.
Emilia hatte im Gesicht ihrer Enkelin eine große Menge an Lust und Freude gesehen als sie zum Strand gelaufen war. Schnell. Leicht. Da war nichts gewesen von dem Schatten, der manchmal um sie strich. Und das hatte Emilia aufatmen lassen. Es würde alles gut werden. Trotz dem Traurig-sein von gestern.
Schicksalhafte Wendungen gab es immer, würde es immer geben. Man wusste nie, ob und wann das Leben sie für einen bereithielt. Wie konnte man jemals sicher sein, vorbereitet oder stark genug für Einschläge, die plötzlich und aus scheinbar heiterem Himmel neben einem explodierten.
Auch die Menschen, die vor über siebzig Jahren sorglos den Jahrhundertsommer genossen, waren nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen, was in den nächsten Jahren auf sie zukommen würde – auch wenn es Vorzeichen für die Katastrophe gegeben hatte. Sie lebten ihr Leben, lachten, liebten, gingen ihrer Arbeit nach, fuhren in den Sommerurlaub voller herrlicher Sonne.
1939 war Emilia fünf Jahre alt. Ein kleines Mädchen, das gerade seine Welt und sich entdeckte. Was wusste sie von der Welt draußen, was dort geschah, was sich langsam aber sicher zusammenbraute, bis es am 1. September 1939 zu dem verheerenden Angriff Deutschlands auf Polen kam. Und dann rollte ein unvorstellbares Inferno über ganz Europa und die Welt, das noch bis zum heutigen Tag seines Gleichen sucht und allen nachfolgenden Generationen immer wieder das Entsetzen ins Gesicht und die Tränen in die Augen treibt.
Emilias Vater war Postbeamter in Berlin, ihre Mutter arbeitete stundenweise in einem Laden für Schreibwaren, der für Emilia ein kleines Paradies war mit den vielen Farben und Stiften, mit denen sie die großen Bogen Papier verschönern durfte, die ihr die Ladeninhaberin in die Ecke legte, wo Emilia bleiben konnte, wenn ihre Mutter arbeitete. Sie war ein braves, ruhiges Kind, das sich gut selbst beschäftigen konnte. Stundenlang malte sie eifrig an einem Kunstwerk, wobei ihre kleine Zunge genauso eifrig von einem Mundwinkel zum anderen wanderte. Oder sie blätterte in bunten Büchern mit vielen Bildern und erzählte sich ihre eigenen Geschichten dazu.
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