Marie schloss ihre Augen ganz, weil ihr physisches Sehen sie mehr vom Geschehen ablenkte als es ihr half. Sie war vollends auf die gesamthafte Wahrnehmung ausgerichtet. Alle Antennen waren ausgefahren. Sie atmete tief und regelmäßig in ihr Herz. Das war für sie der Weg in ihr Inneres. Dorthin wurde sie gerufen.
Nun saß sie da, atmete – und wurde gewahr, dass jemand neben ihr saß. Sie konnte nicht sagen, wann sich diese oder dieser jemand neben sie gesetzt hatte. Es war keine konkrete bildliche Figur, sondern mehr eine Energie. Zuerst flüchtig wie ein Windhauch, doch dann mehr und mehr kraftvoll und eindeutig. Marie nahm klar wahr, dass es eine alterslose Frau war, die neben ihr saß. Sie lächelte sie freundlich an und nahm ihre Hand. Obgleich sich alles zart, sanft und warm anfühlte, spürte Marie eine kraftvolle Energie durch ihren physischen Körper fließen … ein angenehmes, stärkendes Gefühl. Sie richtete sich innerlich auf und war nun dieser Energie neben ihr vollkommen gewahr.
Da war sie - die sie seit Jahren kennenlernen wollte. Sie, die sie seit vielen Jahren begleitete … Marie wusste, dass Maria Magdalena, die spirituellen Gefährtin Jesu, neben ihr Platz genommen hatte. Natürlich nicht im sogenannten realen, physischen Leben. Doch was ist Realität? Hat Realität nicht viele Dimensionen? War Realität reines Bewusstsein? Marie empfand eine selten gekannte innere Gewissheit, dass es Maria Magdalena war. Keine Einbildung, sondern es war die ihr eigene Energie, die Marie Kraft ihres ausgeprägten inneren Wissens zur Seite saß.
Die beiden Frauen erkannten einander am Blick. Es mussten keine Worte gewechselt werden. Es wurde nicht im herkömmlichen Sinn gesprochen. Und doch gingen Botschaften zwischen den beiden hin und her, die von einer hohen Kraft und großen Reinheit waren. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Maria Magdalena, die als die spirituelle Vermittlerin zwischen Welten, dem Menschen und dem Göttlichen angesehen wird, saß ruhig und friedlich neben ihr. Maries Herz klopfte vernehmlich. Ihr gesamter Körper vibrierte leicht. Gleichzeitig war eine unbändige Freude in ihr. Sie fühlte die innere Verbundenheit, denn auch Marie war eine Vermittlerin zwischen Welt. Zwischen anderen Welten als Maria Magdalena, doch sie war ebenfalls Vermittlerin. Maria Magdalena vermittelte auf der inneren Ebene und schenkte die direkte Erkenntnis. Sie hatte die Heilige Hochzeit aus dem Männlichen und Weiblichen bereits im Herzen vollzogen und gilt auch heute noch als spirituell-symbolisches Beispiel für die gelebte Einheit aus Männlichem und Weiblichem. Sie ist Beispiel, wie man den eigenen Lebensweg meistert und den Tanz mit dem Leben lebt. Sie hinterließ viel … wer es fassen kann, der fasse es.
Marie versuchte sich zu orientieren. Wo fand diese Begegnung statt? Sie atmete, tief und gleichmäßig. Nach einiger Zeit wurde Marie bewusst - es war in einer Imaginale, in einem Zwischenreich aus Raum und Zeit. Es war das erste Mal, dass sie diesen Bereich, über den sie viel gelesen hatte, betrat. Symbolisch kann man dies auch als Nous, als RaumZeit zwischen dem Menschlich-Konkreten und dem Göttlich-Spirituellen bezeichnen. Es ist eine gedacht-gefühlte RaumZeit, die sich ergibt, wenn man sie zulässt. Manche bezeichnen sie als die ‚Nadelspitze der Seele‘. Diese RaumZeit ist jene, die der spirituellen Maria Magdalena zugeschrieben wird.
Für Marie war dies eine nahezu ungeheuerliche Erfahrung, doch sie war neugierig. Sie ließ sich sehr gerne in dieser für sie neuen RaumZeit auf die Begegnung ein – auch wenn sie nicht wusste, was auf sie zukommen sollte. Tiefes Vertrauen reichte für den Moment. Es war keine Nahtoderfahrung. Die kannte sie. Nein, es war das Empfinden eines erweiterten Bewusstseins. Ob es die Einheitserfahrung war, konnte Marie nicht sagen. Nicht in diesem Moment. Es war für sie ein Zustand, der von Frieden und großer Klarheit durchdrungen war. Es gab keine Intention, kein Machen und Tun. Es war wie reines Zuhause Sein.
In dieser RaumZeit konnte Maria Magdalena anbieten, Marie ihre Antworten zu Fragen zum Weg in die Einheit aus Weiblichem und Männlichem, zum Tanz mit dem Leben und zum Weg der Meisterschaft zu geben. Dazu lud sie Marie zu einem imaginären Spaziergang durch ein ebenso imaginäres Labyrinth ein.
„Ich bin hier und will dir den Weg zeigen, den du seit Jahren schon gehst und immer wieder fragst und zweifelst. Ich will dir die dir fehlenden Teile zeigen und dich in den bewussten Tanz mit dem Leben einführen.“ Hatte Maria Magdalena zu ihr gesprochen? Erstmals nahm Marie Sprache wahr. Sie erschrak, weil sie so etwas wie eine Stimme ‚hörte‘. Sie war leise und eindringlich, klar und deutlich.
„Bin ich nun vollends verrückt?“ fragte Marie sich. Doch es blieb ihr keine Zeit, ihren schlauen Verstand einzuschalten. Der Sog zog sie weiter in diese Imaginale, sanft und bestimmt zugleich.
„Lass uns gehen. Solvitur ambulando – es löst sich während des Gehens. Lass uns in unserer RaumZeit gehen,“ forderte Maria Magdalena sie sanft auf.
Marie war klar, was nun kam. Sie hatte so viel gelesen und nun konnte sie es endlich erfahren. Nichts musste groß besprochen werden, weil alles gesagt war. Marie wusste, es ging um das Labyrinth und das Symbolon. Endlich ging es los. Endlich – nach so vielen Jahren des Wartens, des Lesens, des Sammelns und des Lernens. Marie war gewahr und lauschte. Auch wenn sie vieles von dem, was nun kommen würde, schon kannte. Sie war offen und gespannt, ob Maria Magdalena ihr noch etwas mitgeben würde, das sie noch nicht kannte. Sie war tief in sich gewiss, dass sich ein Geheimnis enthüllen würde, das in die wahre Meisterschaft führt.
„Du musst wissen, das Labyrinth geht auf König Salomon und die Königin von Saba zurück. Es ist perfekt konstruiert. Es ist Ausdruck für die Meisterschaft am Lebensweg. Es ist das Symbol für Freiheit und für Liebe, für den Tanz des Lebens. Die Wahrheit ist dabei immer sehr einfach. Durch das Labyrinth zu gehen, gibt dem dafür Offenen die Möglichkeit, zu hören und zu sehen, was die Seele ihm sagen will und was dem Herz wichtig ist. Das Gehen ermöglicht die Verbindung des eigenen Inneren mit dem Göttlichen. Erreicht man den Mittelpunkt, dann kann man diese Stimme am deutlichsten wahrnehmen. Bleib frei von alten Vorstellungen während des Gehens. Lass sie am Eingang des Labyrinths liegen. Du brauchst sie da drinnen nicht. Sie sind wie schwere, unpraktische Taschen, die dich und deine Wahrnehmung von dem, was tatsächlich wichtig ist und sich dir zeigen will, ablenken. Danach - gehe langsam und atme. Es ist ein Gebet im Gehen, eine getanzte Meditation, die Geist, Körper und Seele vereint. Der Gang ermöglicht WeisheitsWissen. Er ermöglicht dir einen Blick in deine Seele und in dein Herz. Bleib offen für das, was sich zeigt. Dabei gibt es weder einen richtigen noch einen falschen Weg durch das Labyrinth. Es gibt nur den eigenen Weg. Hinsichtlich des Tempos gibt es auch keine Vorgaben. Jeder findet sein eigenes Tempo und geht es mit Disziplin und Hingabe. Das Labyrinth ist auch Ausdruck für sich kreuzende Lebenswege der Menschen. Lasse dem, der vor dir geht, genug Zeit für seinen Weg. Begegnet einander mit Respekt. Wenn man sich in Biegungen begegnet, lässt man den anderen schweigend passieren. Jeder ist auf seinem Weg unterwegs, doch trifft er immer wieder andere.
Das Labyrinth des Salomon hat 11 Kreise. Die 11 ist die Zahl für den Pfad der Einweihungen. Zählt man beide Kreissysteme zusammen, so gelangt man zur 22, die Zahl für die Vereinigung des Göttlich-Männlichen und des Göttlich-Weiblichen. 22 ist auch eine Zahl der Vollendung, der Ganzwerdung – eine Meisterzahl wie die 11 und die 33.
Da das Labyrinth 11 Kreise in der Version von Salomon hat, gibt es 11 Aspekte zur Verbindung des weiblichen Wegs und mit dem männlichen Weg.“
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