Die Verachtung der Masse vereint (der Wagner zu gefallen hofft) beide, bewusst die Einsamkeit suchenden, Schriftsteller, wenngleich Nietzsche viel reist und Flaubert immer seltener sein normannisches Nest Croisset verlässt, um Paris aufzusuchen, weshalb der passionierte Wanderer den Franzosen auch als Stubenhocker bezeichnet. Während er verkündet, ein freier Gedanke könne nur an frischer Luft gedeihen, zitiert er den Franzosen, er könne nur beim Sitzen denken. » On ne peut penser et écrire qu ́assis G. Flaubert« – Damit habe ich dich, Nihilist. Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur ergangene Gedanken haben Werth. “ 27
Der Unterschied bezieht sich gilt Flauberts eingeschränktem politischen Horizont, sein provinzielles Normannentum. Der Europäer Nietzsche glaubt, er habe die doppelte Bedeutung des Leidens nicht erfasst und kennt nur das passive Erleiden, das Aussitzen von Unannehmlichkeiten. Die Folge davon ist Ressentiment „ Wenn ich Etwas vor allen Psychologen voraus habe, so ist es das, dass mein Blick geschärfter ist für jene schwierigste und verfänglichste Art des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter ... In Goethe zum Beispiel wurde der Überfluss schöpferisch, in Flaubert der Hass: Flaubert, eine Neuausgabe Pascals, aber als Artist, mit dem Instinkt-Urteil aus dem Grunde: Flaubert est toujours haissable, l ́homme n ́est rien, l ́oeuvre est tout. Er torturirte sich, wenn er dichtete, ganz wie Pascal sich torturirte, wenn er dachte – sie empfanden beide unegoistisch ... Selbstlosigkeit – das décadence Prinzip, der Wille zum Ende in der Kunst sowohl wie in der Moral.“28
Nietzsche stellt den Kontext zur Verdummung der Gesellschaft durch falsche Auslegung Epikurs und den Hedonismus (Gleichsetzung von hedone mit ordinärer Lust und Lustprinzip mit Egoismus) her, so dass er das Fehlen intellektueller Redlichkeit beklagt, auch bei Flaubert, aber weit mehr bei Wagner. Flaubert dient ihm als Exempel dreifacher Kritik: seine Lust an der Boshaftigkeit (Zynismus), seiner mangelnden (dionysischen) Begeisterungsfähigkeit und die inkonsequente Haltung zum Katholizismus, deren Mystik er bejaht und deren tiefere spirituelle Quelle er negiert. Offenbar weiß Nietzsche um Flauberts Reliquienkult und Vorliebe für Malerei mit Bezug zum Neuen Testament. Er hält ihn daher im Vorurteil und im Nihilismus befangen und vergleicht den Romancier mit einem morsch gewordenen Baum, hilflos und zerbrochen, der keine Früchte trägt. Wer nicht frei wird von Ressentiment, kann den Nihilismus nicht überwinden.
Die Auseinandersetzung mit Flaubert findet folglich 1882 bis 1888 in der letzten Schaffensperiode Nietzsches statt. In seinen Notizen und Fragmenten im Frühjahr 1884 akzentuiert er, die Welt sei eine Fabel und der wahre Realismus bestehe einzig in der Fiktion, womit er Flaubert als wesensverwandt erscheint. Paradoxales Denken und eine Vorliebe für Irrationalismen sind evident. Denken soll das Fühlen „einfärben “ (gestalten) aber nicht substituieren. Mit Flaubert schwingt sich der Autor zu einem schaffenden Demiurgen auf. Alle Werte müssen von Grund auf in Frage gestellt und neu bestimmt werden. Das Aufspüren von Fehlleistungen oder Fehleinschätzungen ist daher motivierend.
Einer der auffälligsten Unterschiede besteht im Umgang mit Irrtümern: Nietzsche erachtet sie als notwendig und fruchtbar für jeden Reifeprozess auf dem Weg zur Weisheit, während Flaubert sie schlicht bêtises (Dummheiten) und sottises (Albernheiten) nennt, weil er nur an verifizierten Wissen interessiert ist. Flaubert hat ein negatives Menschenbild, kultiviert das Ressentiment und zeigt kein Interesse an einer Belebung der Humanität. Nietzsche glaubt an die Renaissance, die Umkehr aller Werte und eine Philosophie der Zukunft.
Nietzsche kennt auch posthum von Louise Colet veröffentlichte Briefe Flauberts und dessen Korrespondenz mit George Sand, auf die er sich mitunter bezieht. Sie offenbaren Flauberts Lust zur Maske wie jemand, der seine wahre Identität versteckt. Da Nietzsche eine radikale Selbstbejahung des Lebens (amor fati) verlangt, missbilligt er diese Selbstflucht als Form des Selbstmitleids und betont: „ Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen ist uns: Der Dichter verrät sich in seinen Gestalten.“ 29
Auch der Kult um das Objekt, die Pedanterie stoßen auf sein Unverständnis: „ Das Objektiv-sein-wollen z. B. bei Flaubert ist ein moralisches Mißverständnis. Die große Form, die von allem Einzelreiz absieht, ist der Ausdruck des großen Charakters, der die Welt sich zum Bilde schafft: der von allem Einzelreiz weit absieht.“ Nietzsche ist Flaubert darin wesensgleich, dass er die Wissenschaft in ihrer zunehmenden akademischen Trockenheit (dem „ Muff der Talaren “) verachtet, aber dies inkludiert den Anspruch auf Objektivität. Folge dieser Objektivierungsversuche ist eine eingeschränkte künstlerische Perspektive: „Die Psychologie dieser Herren Flaubert ist in summa falsch: sie sehen immer nur die Außen-Welt wirken und das Ego geformt (ganz wie Taine?) – sie kennen nur die Willens-schwachen, so désir an Stelle des Willens steht.“
Nietzsches Glaube an den Willen zur Macht schließt den zur Freiheit und evolutionären Entwicklung ein; Flaubert verlagert ihn nur auf das Wollen oder Wunsch, was im Französischen désir im Unterschied zu passion oder volonté zum Ausdruck gelangt. Für Nietzsche steht die Verlagerung des Schwerpunkts von Ereignis in die Erlebniswelt des Subjekts im Vordergrund, für Flaubert das Auflösen der Empfindung im Dinglichen: „ Objektivität – als modernes Mittel, sich loszuwerden, aus Geringschätzung (wie bei Flaubert).“30
Der Gedanke, dass starke Individuen von Charakter aus Resilienz hervorgehen, indem sie sich Selbstliebe beibringen und zum Selbstwertgefühl erziehen, anstelle zu resignieren, ist vielleicht der wichtigste Kritikpunkt Nietzsches an Flaubert: das Subjekt soll sich selbst befehlen und gehorchen lernen und sein Schicksal (AMOR FATI) lieben.
Flauberts Mentalität - Pessimismus, Skeptizismus, Szientismus, Selbstkasteiung - führt Nietzsche auf seinen schlechten Lebensstil und diesen auf Mangel an Liebe zurück. Die Folge davon ist die Abhängigkeit vom Ideal und Weltflucht, Idealisierung anstelle einer realen Beziehung zur Welt. Der kämpferische Aspekt und Vitalismus fehlen; Nietzsche erblickt in Flauberts Lebensverneinung den allgemein um sich greifenden Nihilismus der Moderne.
Kritik an seinem Lebensstil hindert Nietzsche nicht an der Wertschätzung seiner künstlerischen Genialität. Er sieht ihm wie in Zola einen Schüler Hippolyte Taines und seiner Milieutheorie, der Nietzsche ablehnend gegenübersteht, auch, weil er auf eine Verallgemeinerung der Rasse zu kollektiven Aussagen und „ Rassenschwindel “, neigt. Ein interessanter Vergleich liefert sein Verweis auf Victor „Hugos Maler-Augen, auf alles Sichtbare sehend“. Der visuelle Flaubert malt oder portraitiert das Unsichtbare. Der Verweis deutet auf den Untertitel zu „Madame Bovary“ hin: moers de provence. Die Gefahr besteht durch Übertreibung die Literatur doch zum Zerrspiegel gesellschaftlicher Missstände zu gebrauchen „ Ich lache über Flaubert, mit seiner Wut über den bourgeois, der sich verkleidet, ich weiß nicht als was!“
Philosophisch rechnet Nietzsche Flaubert den Positivisten um Taine zu. Dies ist nachweislich falsch, obgleich Flaubert Kontakt zu diesen durch Zola unterhält, so trifft der Spott des Normannen auch die Milieutheoretiker. Zudem offenbart Nietzsche philosophische Defizite, wenn er ihre Schule kurz mit Wirklichkeits-Philosophen gleichsetzt. Flaubert ist ein Begründer dieses unverstellten neuen Realismus und Wegbereiter des Naturalismus, doch steht er mit mindestens einem Bein in der Antike. Nietzsches Hauptinteresse gilt auch nicht dem apollinischen Roman „Madame Bovary“, der zweifellos gelungener ist, sondern dem dionysischen „ Salambô “, den er nicht zu Unrecht als „ Maskerade des bourgeois “ bezeichnet. Er erkennt darin regulative Funktionen; er nennt den Stil süßlichen Verwesungsgeruch, auf dem die Décadence-Literatur folgt.
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