»Na prima!«
Paolo tastet nach der Aufspürbrille, streift sie sich über und schaut hoch zur Küchenuhr. Es ist kurz nach halb Drei! Die Aufspürbrille fühlt sich ungewöhnlich kalt an und Paolo muss an Laras Lavahalskette denken, die auf dem Küchenboden festgefroren war. Hoffentlich friert die Brille nicht in seinem Gesicht fest! Die Kälte scheint nicht nur die Stadt fest in ihrem Griff zu haben, sondern weitet sich auch auf die Kraftgegenstände aus.
Paolo schwört sich, dass er Lanzelot nie wieder Wache schieben lässt, dann bekommt er mit, wie sich plötzlich die Kühlschranktür öffnet. Paolo verhält sich mucksmäuschenstill und rührt sich keinen Millimeter vom Fleck. Mit Hilfe der Aufspürbrille versucht er, etwas zu erkennen. Leider ist das eine Fehlanzeige. Er sieht überhaupt nichts. Die Kühlschranktür steht sperrangelweit offen und Paolo traut sich nicht, sich zu bewegen. Zu groß ist seine Angst. Zum Glück ist er bis auf seine Hände unsichtbar und kann so fast nicht entdeckt werden. Er beobachtet wie ein Stück Käse aus dem Kühlschrank heraus schwebt und blitzschnell aus der Küche hinausfliegt.
Hat der Käse etwa einen Raketenantrieb? Paolo schaut sich um, kann aber nichts weiter entdecken. Plötzlich geht eine Schublade des Küchenschranks auf. Eine der neuen Gabeln schwebt heraus und fliegt auch in einem Höllentempo aus der Küche hinaus. So geht das noch eine ganze Weile. Messer, Gabeln und ab und zu auch etwas aus dem Kühlschrank.
»Es gibt gar keinen Dieb, sondern das Besteck haut in der Tat einfach von alleine ab«, zieht Paolo seine Schlüsse in Gedanken.
Was soll er tun? Aus seinem Versteck herausspringen, um das Besteck aufzuhalten? Nein, das traut er sich nicht. Das hier ist schon etwas anderes als die Geschichte mit den kleinen Kartoffelwesen. Was ist, wenn eins der Messer auf ihn losgeht? Als Nächstes schwebt die Schere aus der Schublade und schwirrt davon. Paolo muss dringend etwas unternehmen. Das ist doch der Grund, warum sie hier sind. Er wird Lara aufwecken. Vielleicht weiß sie, was zu tun ist. Paolo wendet langsam den Kopf und achtet darauf, kein Geräusch zu verursachen. Lara schläft tief und fest neben ihm. Paolo bekommt einen riesen Schreck, als er bemerkt, dass Lara nicht mehr unsichtbar ist. Das halbfertige Unsichtbarkeitswasser hat bei ihr schon seine ganze Wirkung verloren. Würde ein Löffel oder eine Gabel jetzt Richtung Tisch schauen, dann würden sie Lara ganz gewiss entdecken. »Was für ein verrückter Gedanke. Essbesteck hat keine Augen. Aber warum eigentlich nicht? Was hat seine Oma Luise immer gesagt: Man sieht das, an was man glaubt. Wir nehmen die Welt oft deshalb falsch wahr, weil wir sie hauptsächlich durch unsere Augen wahrnehmen, anstatt mit unseren Herzen«, erinnert sich Paolo und dann schließt er seine Augen. Er atmet tief ein und aus, so wie er es von Lara gelernt hat und spürt in sein Inneres hinein. Das macht er ein paar Mal. Er hört, wie sich das Besteck weiterhin vom Acker macht, aber mit einem Mal vernimmt Paolo auch noch ein anderes, viel leiseres Geräusch. Es klingt wie ein Glöckchen. Er öffnet die Augen und sieht einen Löffel vorbeiflitzen. Aber er fliegt nicht von alleine, sondern wird von etwas getragen. Etwas, das Paolo vorher nicht gesehen hat. Vielleicht, weil er es einfach nicht für möglich gehalten hat oder schlichtweg nicht daran geglaubt hat.
»Was ist das?«, fragt Paolo erstaunt und merkt zu spät, dass er laut gesprochen hat. Der Löffel macht eine Kehrtwende und rast nun in seine Richtung. Plötzlich klatscht das fliegende Etwas voll gegen das Tischbein. Der Löffel fällt auf den Boden und das kleine Wesen torkelt leicht benommen in der Luft herum, bis es sich wieder von dem Aufprall erholt hat. Dann bleibt es wie eine Libelle unmittelbar vor Laras Kopf in der Luft stehen.
Paolo hält den Atem an. »Eine Elfe«, denkt er. Die fast durchsichtigen Flügel schlagen wahnsinnig schnell und verursachen das kaum vernehmbare Glöckchenklingeln. Der Körper der Elfe sieht aus wie der einer jungen Frau. Sie trägt ein silbernes, kurzes Kleid, auf dem wunderschöne Schneekristalle in verschiedenen Größen und Formen glitzern. Ihr Haar ist weiß wie Schnee und auf ihrer Stirn wächst bereits eine große Beule, die von dem Aufprall gegen das Stuhlbein herrührt. Sie hat die Augen weit aufgerissen und ist offensichtlich erstaunt oder sogar erschrocken darüber, Lara hier zu sehen.
In Nullkommanix fliegt die kleine Elfe zum Löffel, hebt ihn auf, steuert auf den Kühlschrank zu wobei sie noch Schwierigkeiten hat, eine gerade Flugbahn zu finden. So als wäre sie leicht betrunken, düst sie im Zickzackkurs durch die Küche.
»Ojemine! Sie sind hier«, spricht sie mit einer wohlklingenden Mädchenstimme. Aber Paolo kann nur die Elfe hören und sonst nichts. Spricht sie mit sich selbst oder gibt es noch andere unsichtbare Wesen? Er liegt immer noch in seinem Versteck und rührt sich nicht von der Stelle. Jetzt beobachtet er, wie die Elfe die Kühlschranktür zuschiebt. Die Aufspürbrille wird unterdessen immer kälter und schmerzt bereits auf Paolos Gesicht.
»Ich muss mich beeilen! Beeilen. Beeilen«, summt die kleine Elfe und die Kühlschranktür schwingt zu. RUMMS!
Dann schwirrt die Elfe mit dem Löffel Richtung Ausgang und das ist der Moment, in welchem Paolo die Brille absetzen muss, weil sie eiskalt wird. Plötzlich ist es stockfinster und so sehr Paolo sich auch anstrengt, er kann überhaupt nichts mehr erkennen. Trotzdem steht er auf und will der Elfe folgen. Paolo tastet sich in der Dunkelheit voran und erreicht den Küchenausgang. Sein Herz schlägt ihm hoch bis zum Hals. Paolo ist sehr aufgeregt. Er lauscht und hört, wie der Klang der Glöckchen der kleinen Elfe leiser wird. »Sie ist nach oben geflogen«, denkt Paolo, als er versucht, das Geräusch zu orten. Paolo erreicht die Treppe und geht Stufe für Stufe nach oben. Seine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit und so kann er schon wieder Umrisse erkennen. Er kommt im ersten Stock an und lauscht erneut. Ganz leise kann er die Glöckchen ein letztes Mal hören und dann verstummen sie ganz. Wenn sich Paolo nicht täuscht, dann ist die Elfe hoch auf den Dachboden geflogen. Er wartet noch einen Augenblick ab. Es ist nun ganz still geworden im Haus und so entschließt er sich, erst einmal Lara und die anderen zu wecken.
»Bin ich schon dran mit Wache halten?«, fragt Lara müde und gähnt.
»Nicht nötig. Ich habe ihn schon gesehen.«
»Wen gesehen?«
»Den Dieb«, plappert Paolo.
Ruckartig richtet sich Lara auf.
»Wo bist du denn?«
»Hier«, flüstert Paolo und macht die Taschenlampe an.
»Oh je, ich bin ja gar nicht mehr unsichtbar«, stellt Lara erschüttert fest.
»Dafür ist die Elfe unsichtbar. Beziehungsweise, das war sie. Jetzt ist sie es nicht mehr.«
»Elfe? Unsichtbar? Was erzählst du denn da?«
Und dann erklärt Paolo seiner Schwester in Kurzfassung, was er alles beobachtet hat. Und wie er geatmet und sein Herz geöffnet hat und dass dadurch die Elfe sichtbar wurde.
»Du hast dein Herz geöffnet?«
»Na ja, ich habe es mir vorgestellt. Auf jeden Fall ist die Elfe geflüchtet. Ich glaube, sie ist sehr schüchtern oder sie hatte Angst entdeckt zu werden«, schließt er seinen Bericht ab.
»Vor wem?«
»Vor dir. Vor uns. Ich weiß nicht so genau.« Mittlerweile sind auch Lanzelot und Thomas aufgewacht.
»Was ist passiert? Ist Paolo wieder eingeschlafen?«, beschwert sich Lanzelot direkt. Paolo schaut den kleinen Hasen wütend an, aber dann wird sein Blick wieder sanft. Er kennt Lanzelot seit über einem Jahr und weiß, wie lieb der Hase im Grunde ist. Eigentlich können sich die beiden nicht ausstehen, trotzdem hat er ihn irgendwie gern.
»Paolo hat den Dieb auf frischer Tat ertappt«, erklärt Lara den beiden Stofflebewesen.
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