Dann ließ es abrupt nach. Und sie spürten eine immense Beschleunigung, die sie in die Stühle presste. Die Muskeln und Knochen schmerzten, als hätten sie einen heftigen Schlag bekommen. Ihr Gebiss schlug wie wild aufeinander, scheppernd, polternd wie ein Hammer auf den Amboss. Auch das tat weh, sogar bis hinauf in die Schläfen. Aber nichts fühlte sich wie ihre Eingeweide an. Sie glaubten glühende Lava getrunken zu haben. Ein einziges brennen breitete sich in ihnen aus. Das Gefühl der ungeheuren Beschleunigung steigerte sich noch. Fast meinten sie, ihre obere Hautschicht reißt sich los. Dann schienen sie sich daran gewöhnt zu haben. Das Gefühl blieb, jetzt tat es aber nicht mehr so weh.
Mühsam erhoben sie sich, gingen wie unter Zeitlupe ins Cockpit. Oxo und Marcel saßen da und beobachteten die Instrumente. Marcels Stirn lag in Falten. Dadurch sah er nicht wie ein knapp zwölfjähriger Junge aus, sondern sehr viel älter, beinahe wie ein alter Greis. Er machte einen Buckel, was diesen Eindruck sogar noch verstärkte. Oxo hatte das nicht, weder einen Buckel noch eine faltige Stirn. Aber auch ihn hatte die Beschleunigung in den Sitz gedrückt. Seither war er noch nicht wieder nach vorn gerutscht. Doch seine Instrumente konnte er auch so betrachten.
Endlich zeigten sie etwas an. Nämlich die Geschwindigkeit, die zurückgelegte Strecke, den Außendruck, die Temperatur, innen wie auch außerhalb des Shuttles. All das war wieder im normalen Bereich. Nichts was ihm Sorgen machte. Nur die Geschwindigkeit verwirrte ihn. Sie waren mit mehr als der doppelten Geschwindigkeit unterwegs, die das Shuttle zu fliegen imstande war. Dafür hatte er keine Erklärung. Die Triebwerke arbeiteten bei einhundert Prozent; sie konnten also niemals so schnell sein. Und doch waren sie es.
Nicole, die ein Stück hinter ihm stand, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Seine Sensoren zeigten ihm, dass sie heiß und nass geschwitzt war. Auch ein bisschen zitterte.
„Es ist alles okay“, gab er von sich. Nicht nur zu Nicole, sondern zu allen anderen auch. Das war es wirklich. Alles war okay. Momentan befanden sie sich in keiner akuten Gefahr. Der Shuttle hielt, Lebenserhaltungssysteme arbeiteten, sie kamen von der Stelle, sogar beträchtlich. Sie wussten eben nur nicht wo sie herauskommen werden.
Niemand erwiderte etwas. Schweigend starrten sie nach draußen, in den offenen Raum. Immer noch existierten keinerlei Anhaltspunkte, an denen sie ihre Position festmachen könnten. Ein schwarzer, lichtloser Vorhang, mehr war da nicht.
Die Geschwindigkeit nahm noch weiter zu. Jetzt waren sie dreimal schneller. Oxo fragte sich nicht mehr, wie das möglich war. Es kümmerte ihn nicht. Die Systeme arbeiteten, nur das zählte.
Eben hatte er die Triebwerksleistung zurückgefahren. Auf ihre Geschwindigkeit hatte das keinen Einfluss. Sie rasten weiter mit zunehmendem Tempo dahin. Er drosselte es noch mehr, mit demselben Ergebnis. Schließlich stellte er es ganz ab. Die Energie konnte er sich sparen. Ohne Antrieb flogen sie immer schneller dahin.
Und drangen dann ganz abrupt in den normalen Weltraum ein…
Kapitel 20
…bremsten ebenso abrupt ab …
Und standen von einer Sekunde auf die nächste praktisch bewegungslos im Raum. Um sie herum existierte wieder der normale Weltraum. Die Sterne strahlten. Ein halbes Dutzend Sonnen erhellte das innere des Shuttles.
„Wo sind wir?“, artikulierte Jenni die Frage, die auch allen anderen unter den Nägeln brannte.
Aber Oxo hatte schon begonnen die Sternenkarten zu Rate zu ziehen. Eine nach der anderen klappte er auf, nur um sie Augenblicke später zusammenzuklappen, sich die nächste aufzeigen zu lassen und auch diese wieder nur beiseite zu legen. Sie passten nicht zu den Sternenbildern die sie sahen. Schließlich ließ er alle durch den Rechner laufen. Aber er glaubte das Ergebnis bereits zu kennen. Anschließend jagte er sie noch ein zweites Mal durch, und dann ein drittes Mal. Es blieb dabei.
Dieser Bereich des Weltraums war noch nicht kartographiert. Es war ein völlig unbekannter Bereich. Wer weiß wie viele Lichtjahre von Yxus entfernt? Hinter ihnen war das Wurmloch verschwunden. Nicht das kleinste Überbleibsel ließ auf seinen Verbleib schließen.
„Hast du eine Ahnung wo …“
„Still!“, fauchte Nicole Robin an.
Dann herrschte wieder Schweigen. Marcel saß kerzengerade auf seinem Sitz. Die anderen vier standen ein Stück hinter ihm, ebenfalls bewegungslos. Nur Oxo hantierte wie wild herum. Er kramte in jedem noch so kleinen Flugsystem herum, befragte sämtliche Speichereinheiten. Es blieb beim Alten. Sie waren in einem völlig unbekannten Abschnitt des Alls gelandet.
Und wenn er nicht wusste, wo sie sind, kann er auch keinen Kurs bestimmen, der sie zurückbrachte …
Aber ans zurückfliegen war noch gar nicht zu denken. Erst einmal musste der Shuttle einer genaueren Kontrolle unterzogen werden. Die Systeme zeigten ihm zwar auf, dass es auf den ersten Blick in Ordnung zu sein schien. Aber davon wollte er sich gern genauer überzeugen und dazu musste er in jedes noch so kleine System eindringen. Stunden würde das dauern. Doch dazu war noch keine Zeit. Stattdessen begann er den nahen Raum zu scannen. Irgendwo musste es etwas geben, das in ihren Sternenkarten vermerkt war.
Sein Volk bereiste seit vielen hundert Runden den Weltraum. Er konnte nicht glauben, dass noch niemals jemand von ihnen hier gewesen sein soll. Das war schwer vorstellbar. Und doch schien es der Fall zu sein …
Die Sternenkonstellationen, die sich ihm darboten, waren in seinen Navigationssystemen völlig unbekannt. Es gab sie einfach nicht.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Jenni leise.
Aber Oxo schaute ihr nur in die Augen und sagte ansonsten kein Wort. Er wusste es nicht. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte er keine Antwort parat. Und das erschreckte sie. Sogar noch mehr als die Tatsache irgendwo im All gestrandet zu sein.
Dennoch verbarg sie diesen Schrecken. Wenn jemand eine Lösung findet, dann ist das Oxo.
Die Minuten gingen dahin, während sie auf ein und derselben Stelle schwebten. Irgendetwas war hier anders.
Sie spähten hinaus in den offenen Raum. Es war merklich heller, als sie es erwartet hätten. Vermutlich lag das an den vielen Sonnen in der näheren Umgebung. Aber auch der Raum an sich war anders. Nicht so tiefgründig schwarz. Ganz nah am Horizont, soweit ihre Augen gerade noch sehen konnten (ihnen fiel nichts Anderes ein als der Begriff Horizont – wie sollten sie es auch sonst nennen) existierte nicht nur tiefe Schwärze. Dort hatte das All eine ganze Palette an Rottönen zu bieten. Von hellrosa bis knallrot.
Der nächste Unterschied war weit weniger offensichtlich. Dennoch sahen sie es. Sie waren in der Nähe eines Planeten, der ganz aus Wasser zu sein schien. Sie waren nahe genug um dessen Oberfläche zu erkennen. Es sah wirklich so aus, als bestünde dieser nur aus Wasser. Eine glatte, flache Oberfläche. Kein Land war zu erkennen. Das blau des Wassers schien den ganzen Planeten zu umspannen. Es sah phantastisch aus. Fast waren sie ein bisschen an die gute alte Erde erinnert, dem blauen Planeten. Dieser hier bestand wohl nur aus Wasser.
„Annäherungsalarm“, schrillte in diesem Moment die Computerstimme des Shuttles.
„Ich sehe nichts“, erwiderte Oxo. „Gibt es ein Sensorenproblem?“
„Negativ“, antwortete die Stimme. „Aus zwölf Uhr nähert sich ein unbekanntes Flugobjekt.“ Zwölf Uhr, also direkt vor ihnen. Buchstäblich vor der Nase. Genau da wo der Wasserplanet …
Dann brach tatsächlich etwas durch die Wasseroberfläche, gewann schnell an Höhe und raste auf sie. Für einen Moment reflektierte sich das Sonnenlicht darauf. Es schien eine schuppige Oberfläche zu haben.
Binnen weniger Sekunden hatte es sie erreicht. Und stieß sie an. Mit seiner Frontspitze stieß es gegen den Shuttle. Die Kids wurden wie Murmeln durcheinander geworfen. Nur Oxo blieb sitzen. Dann stieß es sie erneut an, diesmal noch um einiges heftiger.
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