1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »Hey, jetzt warte mal«, rief ich, ehe ich sie an der Schulter zu packen bekam und zu mir herumdrehte. Noch immer war ihr Gesicht leichenblass. Sie wirkte, als wäre sie in Gedanken ganz woanders. »Was ist los mit dir, Poppy?«
Sie schien zu zögern.
Daraufhin nahm sie allerdings einen tiefen Atemzug, als müsste sie sich sammeln und innerlich darauf vorbereiten, die nächsten Worte auszusprechen.
Sie sah mir tief in die Augen.
»Timmy hat mich gerade geküsst.«
Bestürzt riss ich die Augen auf. Ich benötigte ein paar Sekunden, um den Inhalt des Gesagten zu verarbeiten. Mir fehlten die Worte. Meine Güte, gerade unterhielt ich mich noch mit Ruby über Timmys Gefühle für Poppy und eine Sekunde später hatte er sie geküsst!
»Ich weiß«, sagte Poppy, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »So ging es mir auch.« Poppy ließ die Schultern hängen und ein Anflug von Wut huschte über ihre Züge. Kopfschüttelnd ging sie rückwärts Richtung Tür.
»Ich muss hier weg, bitte sei nicht sauer. Ich ruf dich an, okay?«
»Okay«, es war das einzige Wort, das ich in diesem Moment über die Lippen bekam. Im nächsten Augenblick war Poppy auch schon zur Tür hinaus verschwunden. Eine ganze Weile lang starrte ich noch auf die Haustür, ehe ich mich umdrehte, um zurück zur Küche zu gehen.
Timmy hatte Poppy tatsächlich geküsst. Ich konnte nachvollziehen, weshalb Poppy derart durch den Wind zu sein schien. Schließlich war sie mit meinem Bruder in einer Beziehung und Timmy war zu allem Überfluss auch noch ihr bester Freund. Nur verständlich, dass sie die Flucht ergriff. Immerhin hatte sie nicht die leiseste Ahnung von Timmys Gefühlen gehabt. Ich würde dringend mit Poppy reden müssen, sobald sie sich etwas gesammelt hatte.
Als ich in die Küche trat, saß Timmy auf einem Barhocker am Küchentresen und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ruby redete leise auf ihn ein. Höchstwahrscheinlich ein vergeblicher Versuch, ihn zu beruhigen. Ich fing Rubys Blick auf, der mir bestätigte, dass sie bereits im Bilde darüber war, was soeben zwischen Timmy und Poppy vorgefallen war.
»Was habe ich nur getan? Sie hat einen Freund! Und ich habe unsere Freundschaft zerstört«, Timmy ließ seinen Kopf entmutigt auf den Tisch fallen. »Ich bin ein Idiot.«
»Quatsch, das bist du nicht«, entgegnete Ruby.
»Du hast alles richtig gemacht. Sieh es doch mal so: jetzt weiß sie über deine Gefühle Bescheid und du musst ihr nichts mehr vormachen.«
Seitens Timmy kam lediglich ein bedrücktes Stöhnen.
»Wie hat sie denn überhaupt reagiert?«, versuchte Ruby es erneut.
»Na wie wohl?«, Timmy warf die Hände in die Luft. »Im ersten Moment war sie war völlig erschrocken und hat mich angesehen, als wäre ich Thanos und wollte mit einem einzigen Schnippen die Hälfte der Weltbevölkerung auslöschen. Dann hat sie mich weggeschubst und die Flucht ergriffen.«
»Naja, es kann eben nicht jeder ein Robert Downey Junior sein«, warf Ruby belustigt ein, wofür sie sich einen vernichtenden Blick seitens Timmy einhandelte. Beschwichtigend hob sie die Hände.
»Sorry.«
»Okay, können wir aufhören in dieser kryptischen Marvel-Sprache zu sprechen?«, mischte ich mich ein und zuckte ahnungslos mit den Achseln. Ruby sah mich mit einem amüsierten Ausdruck im Gesicht an.
»Was Timmy damit sagen wollte, ist, dass Poppys Reaktion eine absolute Katastrophe war«, sie hielt kurz inne und schürzte nachdenklich die Lippen. »Wenn ihr mich allerdings fragt, hat Poppy in Anbetracht der Tatsache, dass sie keinerlei Ahnung von Timmys Gefühlen hatte, gar nicht so übel reagiert.«
»Sie wird mich hassen«, kopfschüttelnd starrten Timmys blasse Augen ins Leere.
»Das wird sie nicht«, schaltete ich mich nun ebenfalls ein. »Timmy, du bist ihr bester Freund, wie könnte sie dich jemals hassen? Gib ihr einfach etwas Zeit und dann sprecht ihr euch aus.«
Timmy seufzte. »Ich hoffe du hast recht.«
Eine ganze Weile lang herrschte Stillschweigen, bis ich erneut das Wort ergriff.
»Timmy?«
»Hm?«, gedankenverloren saß er am Tresen und starrte deprimiert auf seine Hände hinab. Dies war der Moment, in dem ich ausholte und ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab.
»Hey! Wofür war dass denn?«, empört drehte er sich um, fasste sich an den Hinterkopf und sah verärgert zu mir hoch.
Ich hob eine Braue, während meine Lippen sich zu einem leichten Schmunzeln verzogen.
»Das war dafür, dass du die Freundin meines Bruder geküsst hast.«
Timmy seufzte.
»Das hab’ ich wohl verdient.«
∞
Nachdem Ruby, Timmy und ich unser Werk vollbracht hatten, verabschiedeten die beiden sich und fuhren nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis Dad und Lukas von der Arbeit kamen. Da Thanksgiving vor der Tür stand, hatten sie heute früher Schluss gemacht und gemeinsam bereiteten wir das Abendessen vor.
Traditionellerweise gab es Roast Turkey mit Süßkartoffeln, Cranberries und Bohnen. Thanksgiving war merkwürdig ohne Mom. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie wir Jahr für Jahr zusammen in der Küche herumgewirbelt waren, ihren Anweisungen folgten und ihr geholfen hatten, ein riesiges Festmahl zuzubereiten. Heute war nun ich diejenige, die Dad und Lukas dirigierte. Jedes einzelne ihrer Rezepten hatte ich mir gemerkt. Insgeheim hoffte ich, dass sie stolz auf mich wäre.
Da Tante Carolyn im Krankenhaus arbeitete und heute kurzfristig für eine Spätschicht gerufen wurde, konnte sie leider nicht kommen. Laut Tante Carolyn würde Adam das Fest bei Freunden verbringen, wobei ich mir jedoch kaum vorstellen konnte, dass Adam überhaupt Freunde besaß. Mir war es jedenfalls mehr als recht. Dafür kündigten sie allerdings an, diesen Samstag zu Besuch kommen zu wollen, wie Lukas mir mitgeteilt hatte. Glücklicherweise war ich an diesem Tag bereits mit Poppy verabredet.
Da weder die Großeltern meines Dads noch die meiner Mom noch lebten, waren es heute Abend nur Dad, Lukas, Mia und ich. Zu viert saßen wir schließlich am Tisch und warteten darauf, dass Dad zu sprechen begann. Einer der wichtigsten Bräuche an diesem Feiertag war das Dankgebet zu Tisch. Dieses wurde meistens vom Familienoberhaupt gesprochen. Daraufhin offenbarte jeder Anwesende reihum wofür er danken wollte, was ihn in dem vergangenen Jahr hat aufhorchen lassen und was er sich für die Zukunft wünschte.
Dad griff nach unseren Händen. Stille senkte sich über den Tisch und ich wartete gespannt darauf, was Dad zu sagen hatte. Selbst Mia reichte Lukas und mir jeweils eine Hand und sah aufmerksam zu Dad auf.
»Zunächst einmal bin ich froh, dass wir alle hier zusammensitzen«, Dad lächelte jeden einzelnen von uns mit seinen warmen braunen Augen an. Das Alter zeichnete sich bereits auf seinem Gesicht ab. Doch noch immer erkannte man sein gutes Aussehen. Die kurzen, dunklen Haare, die feinen Gesichtszüge. In jungen Jahren mussten ihm die Frauen wohl zu Füßen gelegen haben.
»Ich danke Gott für jedes einzelne meiner Kinder. Ihr seid wunderbar. Am Morgen genügt mir schon ein einziges Lächeln von euch, um mir den restlichen Tag mit Freude zu erfüllen. Ihr seid alles was ich habe und alles was ich brauche. Ich möchte, dass es euch gut geht und dass all eure Träume in Erfüllung gehen, dass ihr glücklich seid«, Dad hielt kurz inne und senkte den Blick. Seine Ansprache berührte mich zutiefst, insbesondere, da Dad für gewöhnlich kein Mann der großen Worte war.
»Die letzten Monate waren nicht leicht für unsere Familie. Ihr habt eure Mutter verloren und mir wurde meine große Liebe genommen. Das war ein schmerzhafter Einschnitt in unser Leben. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke, sie nicht vermisse und ich glaube, euch ergeht es nicht anders«, in diesem Moment bemerkte ich schockiert, wie eine einzige Träne Dad über die Wange rollte. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Noch nie. Dad weinen zu sehen, war eines der traurigsten Dinge, die ich jemals gesehen hatte und so dauerte es nicht lange, bis auch bei mir die erste Träne kullerte.
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