»Er hat mal erwähnt, dass er es mag, wenn Frauen den ersten Schritt machen und ich zitiere, die Zügel in die Hand nehmen.«
Ich hatte nichts dagegen, dass mein Bruder wie jeder andere Mensch ein Sexualleben führte. Allerdings wollte ich darüber nicht bis ins kleinste Detail informiert sein.
»Du bist die Beste!« Poppy grinste breit wie ein Honigkuchenpferd und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
»Ja und wegen dir bekomme ich Kopfschmerzen«, klagte ich. Poppy dagegen lachte lediglich laut auf und verabschiedete sich mit einer Umarmung von mir.
»Wir sehen uns!«, sie hatte sich bereits einige Meter von mir entfernt, als ich meine Hände an den Mund hielt und ihr noch einmal etwas hinterherrief.
»Brauche ich Ohrstöpsel am Freitag?«
»Besser wär’s!«, sie drehte sich lauthals lachend um und hüpfte hopsend auf ihr Auto zu. Dieses Mädchen war verrückt, durch und durch verrückt. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und lief zu meinem eigenen Wagen.
Dad, Lukas und ich hatten ihn erst letzte Woche gekauft, da ich mich aufgrund eines Unfalls von meinem geliebten Ford hatte verabschieden müssen.
Nun war ich allerdings stolze Besitzerin eines schmucken, kleinen Audis. Bei der Auswahl allerdings hatte ich nicht viel Mitspracherecht gehabt. Nachdem die beiden in eine hitzige Diskussion verfallen waren, in der Mercedes und Audi miteinander konkurrierten, einigten sie sich schlussendlich auf meinen jetzigen Wagen. Ich selbst hätte mich schon mit einem kleinen, kompakten Gebrauchtwagen zufriedengegeben, aber sobald es um Autos ging, kannten mein Dad und Lukas kein Halten mehr.
An meinem Wagen angekommen, schleuderte ich meine Schultasche auf den Beifahrersitz und ließ mich in das weiche Leder sinken. Ich lehnte den Kopf zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es war alles zu viel gewesen, ER war zu viel gewesen, alles an ihm war zu viel für mein wundes Herz. Jedes Mal wenn mir seine Augen in den Sinn kamen, erinnerte ich mich daran wie liebevoll sie mich einst angeblickt hatten. Wenn ich an seine Lippen dachte, konnte ich sogar noch fühlen, wie sie die meine berührten. Seine sanften Hände, deren Berührungen eine Spur von Gänsehaut auf meinem Körper hinterließen.
Ich kämpfte gegen die Tränen an. Durchhalten, ich musste durchhalten. Weiter machen, irgendwie weiter machen. Irgendwann würde es besser werden. Hoffentlich.
Mit einem tiefen Seufzer startete ich den Motor und fuhr los.
Als ich zuhause ankam, stand Lukas‘ Auto bereits in der Auffahrt. Seit dem Vorfall zwischen Adam, Logan und mir war unser Verhältnis trotz der Aussprache recht angespannt. Dies lag größtenteils daran, dass Lukas meine Entscheidung nicht guthieß, Dad vorerst bezüglich der jüngsten Ereignisse im Ungewissen zu lassen. Hinzu kam die Tatsache, dass ich mich nach wie vor, was Logan betraf, in Schweigen hüllte. Doch ich konnte nicht anders. Allein schon über ihn zu reden, setzte mir enorm zu und ich wusste nicht, ob Lukas die Verbindung, die zwischen mir und Logan bestand, jemals verstehen würde.
Mit einem lauten Knall schloss ich die Fahrertür meines Wagens und trottete die Auffahrt hinauf zur Haustür. Ich ließ die Tür ins Schloss fallen und streifte zuerst meine Sneaker ab, die völlig durchnässt vom Schnee waren. Ich musste mir dringlichst ein paar warme Boots zulegen. Die Kälte fraß sich nämlich durch meine Schuhe mit dem Resultat völlig verfrorener Zehen.
Ich hörte ein Fluchen und folgte dem Geräusch zur Küche. Was ich sah, überraschte mich. Lukas stand vorm Herd und klapperte mit den Töpfen. Er wirkte ziemlich hilflos und völlig fehl am Platz, wie ein Elefant im Porzellanladen.
»Luke, was machst du da?«, amüsiert hob ich die Brauen und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Er warf mir einen gestressten Blick über die Schulter zu.
»Hey«, grüßte er und versuchte gleichzeitig die kochende, rote Flüssigkeit im Kochtopf vor sich nicht aus den Augen zu lassen. »Ich habe früher Schluss gemacht auf der Arbeit und dachte ich mache mich hier in der Küche mal nützlich.« Genau in diesem Moment blubberte es aus dem Topf und einige Spritzer der Tomatensoße landeten direkt auf Lukas‘ weißem Hemd.
»Verdammt«, fluchte er, während er den Topf eilig von der Herdplatte nahm. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen und trat näher. Was das Kochen anbelangte, hatte Lukas zwei linke Hände.
»Geh dich umziehen, ich kümmere mich um das Essen.«
∞
Zehn Minuten später saßen Luke und ich zusammen am Tisch und nahmen schweigend unser Abendessen zu uns. Dad machte wie immer Überstunden in der Firma. Mia war nach dem Kindergarten wieder mit zu ihrer Freundin Lucy und aß dort zu Abend.
Allerdings musste ich sie nach dem Essen abholen, da Dad noch in der Firma zu tun hatte und Lukas mit seinen Jungs verabredet war. Insgeheim fragte ich mich, ob Logan auch mit von der Partie sein würde, oder ob zwischen ihm und Lukas seit des Vorfalls mit Adam noch immer Funkstille herrschte.
Ich hatte in Erfahrung bringen können, dass Logan sich wohl ebenfalls weigerte, mit seinen Freunden über besagten Vorfall zu sprechen. Aus diesem Grund schien Luke sich wohl von Logan zu distanzieren. All diese Informationen hatte ich von Poppy, die es natürlich aus erster Hand wusste, da sie schließlich mit meinem Bruder ausging. Ich selbst wagte es nicht einmal, Logans Name in Lukes Gegenwart auszusprechen.
Allerdings konnte ich meinen Bruder auf gewisse Art und Weise verstehen. Er tappte nach wie vor im Dunkeln und es machte ihn sicherlich wahnsinnig, nicht zu wissen, was sich zwischen seiner kleinen Schwester und einem seiner Freunde abspielte - oder besser gesagt abgespielt hatte. Doch mit ihm darüber zu reden, kam für mich nicht in Frage. Wer versicherte mir, dass Luke nicht vor Wut explodieren würde? Allerdings war ich mir sicher, dass Lukas eine leise Ahnung hatte. Schließlich war er nicht gerade auf den Kopf gefallen und Logans Verhalten, als er Adam geschlagen hatte, war mehr als aussagekräftig.
»Diesen Samstag solltest du vielleicht bei Poppy verbringen«, sprach Luke und legte mit einer bedeutungsvollen Geste sein Besteck beiseite.
»Adam und Tante Carolyn kommen zum Abendessen. Ich gehe nicht davon aus, dass du dabei sein möchtest«, er hob den Blick und sah mir direkt in die Augen.
Mein Magen rebellierte, als ich an Adam dachte. Sofort schwand mein Appetit auf das Essen vor mir und ich legte ebenfalls mein Besteck weg.
»Okay. Danke«, erwiderte ich leise und senkte den Blick auf meinen Teller, während die Erinnerungen an den Vorfall vor zwei Monaten auf mein inneres Auge einprasselten.
Ich hörte Lukas laut seufzen.
»Drea, so kann das nicht weitergehen. Adam wohnt zwar nicht mehr bei uns und hat die Schule gewechselt, aber du wirst ihm nicht für immer aus dem Weg gehen können. Nicht wenn du nicht endlich darüber redest. Mit Dad. Mit Tante Carolyn. Sie verdienen es, die Wahrheit zu erfahren«, er legte eine kurze, bedeutungsvolle Pause ein, ehe er in einem energischeren Ton weitersprach. »Und für mich ist das auch nicht leicht, weißt du? Was denkst du wie ich mich fühle? Jedes Mal, wenn ich diesem… «, seine Gesichtszüge verdunkelten sich, »diesem Mistkerl in die Augen schauen muss und Dad und Tante Carolyn vorspiele, dass alles in bester Ordnung sei?«
»Ich weiß«, brachte ich lediglich hervor und ließ den Kopf sinken.
»Es ist bald Weihnachtszeit. Denkst du nicht, dass Dad die beiden über Weihnachten zu uns einlädt? Wie stellst du dir das alles vor, Drea?«, ungläubig schüttelte er den Kopf.
Ich wusste, dass Luke ebenfalls unter dieser Situation litt und ein schlechtes Gewissen beschlich mich. Doch Lukas‘ Drängen stieß bei mir auf taube Ohren. Ich fühlte mich dadurch nur in die Enge getrieben.
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