Warum hatte sie eigentlich niemals mit ihrer Mutter darüber gesprochen? Irgendetwas hatte sie immer davon abgehalten. Nun plötzlich drängte es sie dazu.
Wenn die Mutter aus dem Grab zurückgekehrt war, würde sie mit ihr reden. Ob die Mutter ihr erklären könnte, woran man erkannte, ob man berufen war, und was mit den Schmerzen gemeint war, von denen Zirrkan gesprochen hatte? Oder ob sie entsetzt darüber war, dass ihre einzige Tochter nicht nach ihr Sippenmutter der Dala sein wollte, sondern eine von Dorf zu Dorf ziehende Heilerin?
Naki drehte den Topf etwas, damit er sich auch von der anderen Seite erwärmte. Dann stand sie auf und trat in die offene Tür.
Früher, bevor Zirrkan mit seiner Heilkunst in ihr Leben getreten war, hatte sie sich nichts anderes vorstellen können und nichts anderes gewünscht, als eines Tages so zu sein wie die Mutter. Und nun …
Ohne es recht zu merken, ging sie vom Haus weg und schlug den Weg zum neuen Grab unter den Eichen ein. An ihrem Eichenschößling kauerte sie nieder und strich leicht über seine Blätter. Von den Steinen, die sie einst um die gepflanzte Eichel errichtet hatte, war nichts mehr zu sehen.
Ein kleines Bäumchen war er schon. Und war doch nur eine Eichel gewesen, als die Männer das Grab erbaut hatten …
»Komm, Naki, wir bringen den Männern zu trinken! Sie werden Durst haben, so schwer, wie sie arbeiten!« Die Mutter rührte Wasser unter die Sauermilch, goss dann etwas von dem Getränk in einen kleineren Topf: »Trag du den!«, hob sich selbst den großen aufs Haupt.
Sie, das kleine Mädchen, fasste das Gefäß mit beiden Händen, setzte es sich vorsichtig auf den Kopf, hielt es mit einer Hand, fasste mit der anderen nach der der Mutter.
Die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, den Atem vor Anspannung fast angehalten, so ging sie neben der Mutter her, bemüht, deren stolzes Kopfhalten nachzuahmen. Die Mutter ging mit ihr aus dem Haus, den Pfad zum Eichenhain entlang, zur Baustelle.
Unnahbar, hoheitsvoll, mit feierlichem Ernst ragten die großen Steine in die Höhe. Als hätten sie dort gestanden vom Anbeginn der Welt. Als wären es nicht die Männer gewesen, die sie zur Grabkammer errichtet hatten.
Naki stockte. Sie spürte ihn wieder, den Schauer, dieses Gefühl, für das sie keine Worte kannte, das sie zwang, in der Abenddämmerung allein hierher zu gehen, die Steine anzuschauen, sie zu berühren, ihre Wange an die kalten Flächen zu legen. Und plötzlich vor ihnen niederzuknien.
»Siehst du«, sagte die Mutter, »die Männer bauen schon die Außenwand des Grabes. Es wird noch größer werden als das alte Grab drüben am Hang.«
Der Bann verflog. Naki sah nicht mehr die Ewigkeit der Steine. Sie sah die Männer, die sich an der Baustelle mit einem Findling abplagten.
»Mutter, warum bauen die Männer ein neues Grab? Wir haben doch ein Grab, wo die Großmutter drin schläft und alle anderen?«
»Wir haben ein neues Dorf gebaut, weil die alten Häuser morsch geworden sind. Nun bauen wir das Grab dazu. Ein neues Dorf – ein neues Grab. Alle, die in unserem Dorf sterben, werden in diesem Grab beieinander bleiben, bis zu ihrer Wiedergeburt. Wie weit die Männer schon sind! Wie sie das geschafft haben! Und dein Muga ist der Baumeister, auf ihn kommt es am meisten an. Pass auf, gleich setzen sie einen neuen Stein!«
Die Männer waren mit einem Findling dicht vor einer ausgehobenen Grube. Auf Baumstämmen rollten sie ihn, die Koa zogen mit starken Seilen, die Dala schoben oder halfen mit Eibenholzstangen nach. Nakis Muga gab die Anweisungen.
Wie riesig dieser Stein war! Viel größer als jeder Mann und so dick wie fünf Männer gemeinsam! Selbst ihr Großer Oheim sah klein und schmal neben ihm aus, und dabei war er doch so groß und stark, ein Bär von einem Mann, sagte die Mutter immer. Ein kurzer Ruf des Muga, ein letztes Aufbieten aller vereinten Kräfte, und der Stein rutschte von den Rollen über die schräge Fläche, glitt mit dump fem Schlag in die Grube und blieb, bis zur Hälfte versenkt, aufrecht in ihr stehen. Die Erde bebte.
»Die du Himmel und Erde und Meer geboren hast, gesegnet ist dein Leib in alle Ewigkeit«, sprach die Mutter.
»Muga!«, rief sie selbst, ließ die Hand der Mutter los und rannte. Das Gefäß auf ihrem Kopf hüpfte, die Sauermilch schwappte über, rann kühl und klebrig den Nacken herab. »Ich bring‘ dir zu trinken!«
Der Muga nahm ihr den Topf ab, trank, zog sie kurz an sich. Sie drückte sich an ihn. Er blinzelte ihr zu: »Jetzt lass die anderen trinken! Die haben es nötiger als ich. Die haben die ganze Anstrengung gehabt!«
»Aber Mutter sagt, auf den Baumeister kommt es am meisten an«, widersprach sie.
Er grinste: »Na, wenn das deine Mutter sagt!«
Sie gab den Milchtopf an den Großen Oheim weiter, doch dann kehrte sie zu ihrem Muga zurück. »Erklärst du mir, wie das Grab aussehen wird?«, bettelte sie. Er strich sich über die Bartstoppeln. Sie mochte dieses seltsam kratzende Geräusch.
»Ein andermal, Naki«, sagte er. »Du musst mich jetzt den Stein einrichten lassen. Kletter dort auf die Eiche und sieh dir alles von oben an! Dann erkennst du selbst, dass es so etwas wie ein riesengroßes Ei ist, was wir hier bauen.«
Enttäuscht verzog sie sich, blickte zweifelnd den hohen Baum empor. Sie versuchte den untersten Ast zu erreichen, sprang, verfehlte ihn, versuchte es immer wieder. »So schaffst du das nie!« Oheim Li hob sie in die Höhe, setzte sie auf den Ast. »Pass bloß auf, dass du nicht runterfällst! Ritgo bringt mich um, wenn dir was zustößt!«
»Der Große Oheim bringt niemanden um!«, erwiderte sie empört.
Er seufzte. »Natürlich nicht!«
Sie kletterte einen Ast höher und noch einen, noch einen. Dann sah sie hinunter. Überrascht sog sie die Luft ein.
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