1 ...8 9 10 12 13 14 ...31 Die Streitaxt fuhr auf den mächtigen Schädel des Keilers hernieder, krachend zerbarst der Knochen, tiefer noch fuhr die Steinklinge. Blut spritzte auf. Bis zum Schaft im Hirn des Keilers blieb die Axt stecken. Der Keiler sackte zusammen und fiel zu Boden.
Lykos war über ihm, zerrte die Streitaxt aus dem zertrümmerten Schädel, ließ sie wieder und wieder niedersausen, bis die Raserei sich erschöpfte. Dann sank er neben dem Keiler in die Knie. Allmählich verebbte der rasende Herzschlag, die Züge glätteten sich.
Lykos schnitt dem Keiler mit dem Flintdolch die Kehle durch. Er fing mit beiden Händen das hervorquellende Blut auf und versprengte es über die Heide. Höre mich, Herr der Wilden Schar, göttlicher Krieger, furchtbarer Herrscher der Wölfe! Kühle deine heilige Wut im Blut dieses Keilers. Bleibe mir gewogen und siehe, wie ich dir zu Ehren mein Leben gewagt habe! Denn ich bin dir treu.
Schwankend erhob Lykos sich. Merkwürdig schwach war ihm, wie immer nach der Verwandlung. Mühsam straffte er sich, zwang sich, mit festem Schritt zum Fluss hinunterzugehen. Er legte den Waffengürtel ab. Nackt lief er über Steine und hartgetrockneten, rissigen Schlick bis in die Mitte des Flugbettes, in dem eine tiefere Rinne noch Wasser führte, stieg ins Wasser, wusch sich, wusch die Hitze des Kampfes ab und den Blutrausch.
Dann ließ er sich von der Sonne trocknen und kämmte mit den Fingern das lange Haar. Schließlich schlug er junge Bäume und baute aus dünnen Stämmen, Zweigen und Waldreben einen Lastschlitten. Keuchend wälzte er den massigen Körper des Schwarzwildes auf das Gestänge, band seinen Gürtel am Schlitten fest und begann zu ziehen.
Nur mühevoll kam er zwischen den Bäumen vorwärts. Jeder Stein, jede Bodenwelle und jede Baumwurzel wurden zum Hindernis. Dennoch gab er nicht auf: Das Staunen der Wolfsbrüder zu sehen, wenn er mit dieser Last vor ihrer Hütte erschien! Schweiß rann ihm in die Augen, trübte ihm die Sicht. Nass klebte das lange Haar auf seinem vernarbten Rücken. Die Muskeln schmerzten. Kaum achtete er mehr auf den Wald. Die schleichenden Schritte hinter dem Gebüsch bemerkte er dennoch.
Ohne zu stocken, ohne den Kopf zu drehen, ohne auch nur aus den Augenwinkeln zur Seite zu spähen, ging er scheinbar ahnungslos weiter, hörte die Schritte verstohlen näher kommen, jenseits des Gebüschs zu ihm aufschließen. Den Gürtel fallen lassen, die Streitaxt vom Lastschlitten reißen, durchs Gebüsch springen, sich auf die Gestalt stürzen, sie zu Boden drücken, die Streitaxt gegen sie erheben: All dies war eins. Dann erst sah er, wen er niedergeworfen hatte: einen Jungen, der ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte.
Lykos ließ den Arm sinken, warf die Streitaxt beiseite, packte den Jungen am Kinn. Schon wollte er ihn schlagen, doch plötzlich lachte er: »Bist du es wirklich, Temos, kleiner Bruder? Wie lang ich dich nicht gesehen habe! Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt!«
»Ich – ich dich auch nicht«, stotterte der Junge. Lykos gab ihn frei, erhob sich und schüttelte den Kopf. »Wie kannst du einen Wolfskrieger beschleichen, Kleiner! Weißt du nicht, wie leicht dich das dein Leben kosten kann?«
Temos stand auf, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Schon. Aber ich war bei der Hütte, gestern abend bin ich dort angekommen, und deine Wolfsbrüder haben gesagt, du seist im Wald, und Vater hat doch gesagt, ich soll dich suchen, aber ich wusste nicht, ob du es wirklich warst, und da …«
»Vater?«, unterbrach ihn Lykos. »Er schickt dich zu mir?«
»Ja. Ich soll dir sagen, du sollst zu Hause vorbeikommen, ehe du zum Gastmahl des Rösos aufbrichst!«
Lykos runzelte die Stirn. »Wird Vater nicht bei Rösos sein?«
Temos sah zu Boden. »Ich weiß nicht«, erwiderte er zögernd. »Er ist seit Tagen nicht mehr ausgeritten.«
»Ist er krank?«
Temos hob die Achseln. »Er redet nicht darüber. Aber meine Mutter macht sich Sorgen um ihn.«
»So. Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Hilf mir, den Keiler zur Hütte zu bringen!«
Lykos wies den Jungen an, den Lastschlitten zu schieben, während er selbst wieder zog. Sein Vater …
Wenige Male hatte er ihn in den letzten Jahren gesehen und es nicht vermisst. Nur bei den großen Gastgelagen war er ihm hin und wieder begegnet, die der König oder vornehme Familienväter gaben und zu denen auch die Wolfskrieger geladen waren: seltene Gelegenheiten höfischen Glanzes, die das wölfische Kriegerleben unterbrachen.
»Wie lang deine Haare gewachsen sind«, sagte Temos schüchtern.
Lykos drehte sich um. Seine Augen blitzten. »Es ist ja auch schon sechs Sommer her, seit ich zum ersten Mal einen Mann getötet habe und sie wachsen lassen durfte! Aber was ist mit dir? Ich war nicht viel älter als du, als ich zu den Wölfen ging und das Haar geschoren bekam! Wie lang willst du noch im Kinderhaar herumlaufen?«
Temos wurde rot. »In einem Jahr will ich mich den Proben unterziehen!
Lykos nickte. »Na dann!«
»Sag mir, Lykos«, begann der Junge und brachte dann stockend hervor: »Sind die Proben sehr schwer?«
»Nicht sehr!« erwiderte Lykos mit beißendem Spott. »Sie machen dich stark – oder sie bringen dich um!«
Temos wurde bleich. Lykos lachte: Warte nur, Kleiner, aus dir wird auch noch ein Mann! »Jetzt komm! Schieb!«, befahl er. Er beugte sich nach vorn, zog an der Last und ging stetig voran. Die Erinnerung ging mit ihm:
Er trug noch seinen Kindernamen und das Kinderhaar. Er war ein Prüfling. Und er fürchtete sich.
Alles hatte er ertragen: die einsamen Tage und Nächte im Wald, die harten Waffenübungen, die tagelangen Gewaltmärsche, die Hetzjagden, bei denen er mit den Hunden hatte Schritt halten müssen, das nächtliche Wachen, den Hunger, den Durst, das Schweigen, die immer neuen Erniedrigungen durch den Meister und die Wolfskrieger. Zahllose Tode war er gestorben, und ebenso oft hatte er zitternd sein wiedergewonnenes Leben in Empfang genommen. Und nun hing er hier gefesselt in der Eiche, wie einst der göttliche Krieger gefesselt hing im Weltenbaum. Die letzte Prüfung sollte er bestehen und sein Blut opfern. Aber da waren keine Ehrfurcht, kein Stolz und kein Mut. Da war nichts als Angst.
Wenn er schrie, wenn er nur einen Laut von sich gab, würde er sterben. Ein bösartiges Zischen hinter ihm, schrecklich vertraut. Er zuckte zusammen, sein Körper erkannte den Schmerz, noch ehe die lange Rute ihn zum ersten Mal traf. Ein Hieb nach dem anderen brannte sich in seinen Rücken, fraß sein Fleisch.
Er presste die Zähne zusammen, die Lippen aufeinander . . .
Durch die Macht der Schläge hin und her gebeutelt, wurde er an den Baumstamm geschleudert. Kein Atemholen. Blut rann warm an ihm herab, tropfte in den schwarzen Boden. Die Totenhunde, Hüter des Reiches der ruhmlosen Toten, leckten es auf. Ihre Augen glühten. Sie fletschten die Zähne, knurrten. Sie warteten, dass er schrie.
Rote Nebel vor seinen Augen. Göttlicher Krieger, dein Tod, mein Tod. Mach ein Ende. Aus dem roten Nebel wurde die Sonne geboren, drehte sich in rasendem Wirbel, schrillte in gleißendem Weiß.
Читать дальше