1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Die Axt war schwer. Aber längst nicht so schön wie die Doppelaxt des Großen Oheims, deren beide Schneiden wie zwei Halbmonde geformt waren: der zunehmende Mond und der abnehmende. Keines Blickes hätte sie diese fremde Axt gewürdigt, wenn es nicht eine Axt der Söhne des Himmels gewesen wäre.
Sie hielt sie noch immer. Da sagte der Große Oheim: »Eine seltsame Axt. Ohne jeden tieferen Sinn. Wie soll sie taugen, ein Tier für das heilige Opfer zu töten?«
Haibe blickte von der Axt auf, zum Oheim und dann zum Händler. Dieser machte ein merkwürdiges Gesicht und erwiderte: »Dafür ist sie nicht gedacht, diese Axt. Es ist eine Waffe der Söhne des Himmels, geschaffen nur für einen Zweck: einem Mann den Schädel damit einzuschlagen. Und dafür taugt sie sehr gut. Vor allem in der Hand eines Kriegers, der sich seit frühester Jugend darin geübt hat!« Haibe ließ die Axt fallen, starrte auf ihre Hände. Auf einmal zitterte sie. Im Raum war es totenstill.
Haibe drängte sich durch die Reihe der anderen, drängte sich an die Mutter. Die Mutter legte die Arme um sie, drückte sie an sich und gewährte ihr die Sicherheit und den Schutz, die nur sie gewähren konnte. Dicht an Haibes Ohr sagte sie leise: »Du musst dich nicht fürchten, Liebes! Sie sind weit im Osten, die Söhne des Himmels. Niemals werden sie über das große Moor und den See und die Sandberge kommen bis in unser Land!«
Haibe schüttelte den Kopf. »Ach Mutter, du hast dich getäuscht! Oder hast du nur mich getäuscht? Wolltest du eine Last von einer Kinderseele nehmen, weil diese zu schwach war, sie zu tragen? Zirrkan und die alte Priesterin müssen sie tragen. Und wenn noch Frauen leben sollten aus ihrem Dorf, wenn Kugeni noch lebt, dann die erst recht! Sie sind nicht im Osten geblieben, die Söhne des Himmels! Das große Moor und der See haben sie nicht aufgehalten! Nur die Sandberge trennen uns noch von ihnen. Nur die Sandberge, da hattest du recht, die Sandberge halten sie auf.« Sie brach ab. Sie konnte es nicht aussprechen, nicht hier in der Finsternis.
Aber nie würde sie vergessen, wie Zirrkan nach der langen Trennung so furchtbar verändert in ihr Dorf gekommen war und davon berichtet hatte, dass er seine Mutter zu den Heiligen Steinen begleitet und bei seiner Heimkehr das Dorf seiner Sippe zerstört vorgefunden hatte: eine Stätte grauenhafter Verwüstung. Nicht ein Haus hatte mehr gestanden – nur verbrannte Trümmer. Nicht ein Mensch hatte mehr gelebt – nur erschlagene, durchbohrte oder verkohlte Leichen von Männern und Kindern.
Nicht ein Überlebender, der berichten konnte, was geschehen war. Aber die unmissverständliche Sprache der Spuren, und in der Eiche am Dorfplatz eine blutige Streitaxt der Söhne des Himmels: höhnisches Zeichen ihrer triumphierend eingestandenen Tat.
Zirrkan hatte kaum sprechen können, als er erzählte, dass er die Kinder seiner Frau und die seiner Schwester mit gespaltenem Schädel oder erwürgt vorgefunden habe. Seine Frau und seine Schwester aber habe er nicht gefunden – nicht eine Frau, nicht ein junges Mädchen.
Später hatten sie erfahren, dass Zirrkans Dorf nicht das einzige gewesen sei. Dass noch mehrere östlich der Sandberge gelegene Dörfer auf die gleiche grauenerregende Art überfallen worden seien, damals vor acht Jahren während der großen Trockenheit –
Da war etwas, ein halber Gedanke.
Sie müsste ihn nur zu sich heranziehen. Aber sie war so müde.
Zirrkan, Geliebter, wo bist du? Welch schreckliches Unheil, und für mich war es der Anfang vom Glück. Wäre deine Familie nicht gemordet worden, so wärest du damals nicht zu mir gekommen, um bei mir Trost zu suchen. Was wäre ich ohne deine Liebe. Ich sollte so nicht denken, es ist schlecht von mir. Zirrkan, warum hast du nicht Abschied von mir genommen? Deine Mutter hat dich weggeschickt. Was ist das für eine Reise, von der ich nichts wissen darf, nicht einmal ich –
Sie ließ sich zur Seite gleiten und schlief ein.
Seit Tagen war er seiner Fährte gefolgt, nun endlich konnte er gegen den Wind an ihn herankommen: den mächtigsten Keiler, den er je gesehen hatte. Das erste Morgenlicht zeichnete die massig-gedrungene Gestalt. Dort unter den Eichen brach der Keiler mit seinen gewaltigen Hauern den steinharten Boden auf – nur wenige Schritte von Lykos entfernt. Nah genug, dass das Tier sich, erst verwundet, zum Kampf stellen würde.
Dies war die äußerste Prüfung. Wenn er den Pfeil in die Seite des Schwarzwildes schoss, gab es kein Zurück mehr. Wer einen solchen Keiler reizt, fordert den Tod heraus. Lykos ruckte leicht mit der Schulter. Lautlos glitt der Bogen in seine Hand. Einmal noch prüfte der junge Mann den Sitz der Streitaxt am Waffengürtel, vergewisserte sich, dass der starke Eibenholzspeer griffbereit neben ihm lehnte.
Behutsam legte er den Pfeil an. Ein letzter Augenblick des Innehaltens: Aus eigener Kraft hält kein Mann diesem Untier stand, kein Mensch. Göttlicher Krieger, Herrscher der Wölfe, du willst es. Ich folge dir. Nimm von mir Besitz.
Fest zog er Bogen und Sehne auseinander, dehnte die Spannung, schoss. Die Bogensehne sang: triumphierendes Lied von Mannesmut und Gottvertrauen. Der Pfeil traf den Keiler, blieb in seiner Seite stecken. Der Keiler klagte laut, fuhr herum. Schauerlich tönte das erregte Wetzen seines Gewaffs. Lykos ließ den Bogen fahren, riss den Speer heran. Als sich seine Finger um den glatten Schaft schlossen, geschah es: Lykos der Mann – er hörte auf zu sein.
Feuer schoss aus dem Speer in seine Glieder, glühend pulste das Blut. Die feinen Haare in seinem Nacken sträubten sich. Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, die Lippen bleckten drohend die Zähne. Lykos der Wolf – er war geboren.
Geduckt, das linke Bein gebeugt, das rechte nach hinten gestützt, den Speer unter die Achsel geklemmt und mit beiden Händen fest umklammert, die Füße mit aller Kraft im Boden verankert, Spannung in jeder Faser seines Körpers: So erwartete er den Keiler.
Mit den überscharfen Sinnen des Wolfes nahm er den beißenden Geruch des Keilers wahr, hörte dessen stoßweisen Atem über das Dröhnen der Erde hinweg. Augenblick, zur Ewigkeit gedehnt.
Mit todbringendem Ungestüm donnerte der Keiler auf Lykos zu. Die gefährlichen Hauer blitzten. Dann der Aufprall, ein Sprengschlag entfesselter Gewalten. Der Speer drang in die Kehle des Keilers, fraß sich tiefer und tiefer, wurde erst vom seitlichen Knebel gebremst. Hellrotes, blasiges Blut rann die Speerrinne herab. Doch ungebrochen schien die Kraft des Tieres.
Die Wolfswut verzehnfachte Lykos‘ Kräfte. Seine Füße gruben sich in den Boden, er drückte mit dem Speer, wand sich von einer Seite zur anderen, hielt und hielt, suchte den Gegner zu Boden zu zwingen, wusste doch: Es war unmöglich. Ein letztes Aufbäumen, dann ließ Lykos den Speer fahren, schnellte in die Höhe, zur Seite. Der Keiler brach an ihm vorbei, fing sich, kam zurück mit dem Speer im Rachen, den Kopf zum blindwütigen Angriff gereckt.
Lykos drehte sich in einem rasenden Wirbel einmal um sich selbst, riss dabei die Streitaxt vom Gürtel, den Arm nach hinten, warf die gesammelte Kraft der Besessenheit in diese eine Bewegung, schleuderte die Axt dem Keiler entgegen.
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