„Hast du deine Erinnerungen jemals aufgeschrieben? Du erinnerst dich an so viele Leben. Vielleicht hilft es dir, einige Dinge klar zu sehen. Möglicherweise erkennst du ein Muster, einen Grund für alles, was geschehen ist.“ Liz sah Hoffnung in Kaylas Gesicht aufleuchten.
„Ich könnte sie in meinen Laptop schreiben. Dann kann ich ergänzen, was mir erst später einfällt. Oder etwas verbessern, wenn ich nicht gleich die richtigen Worte finde. Das ist eine gute Idee! Du bist ein Schatz! Danke!“ Kayla strahlte ihre Freundin an.
Es tat gut, sie so froh zu sehen. Mit dieser Aufgabe würde für eine Weile vergessen können, was sie sonst noch belastete.
Liz verabschiedete sich bald darauf. Sie konnte Kayla jetzt beruhigt allein lassen. Liz war zuversichtlich, dass sie die Geschichten lesen durfte, wenn Kayla sie beendet hatte. Sie freute sich schon darauf. Noch nie war ihr jemand wie Kayla begegnet, die sich an so viel aus vorangegangenen Leben erinnern konnte. Es war spannend, zu erfahren, wie sie gelebt und welche Erfahrungen sie gemacht hatte.
Als Liz weg war, holte Kayla ihren Laptop. Sie schätzte die Möglichkeiten, die sie mit dem kleinen Gerät hatte. Das Ding ersetzte eine ganze Bibliothek. Es befanden sich schon Ordner über Heilpflanzen oder Meditationstechniken darauf, die sie mit Schülern durchführen konnte. Und verschiedene weitere Ordner.
Darren hatte ihr beigebracht, wie man Inhalte schützen konnte, die nicht jeder lesen sollte. Tatsächlich ergaben sich immer weitere Möglichkeiten, den kleinen Computer einzusetzen. Man musste mit der Zeit gehen, auch bei ihren speziellen Fähigkeiten. Sie legte einen neuen Ordner an und suchte den Anfang ihrer Geschichte.
Wo hatte alles begonnen? In Ägypten, ganz sicher. An ältere Zeiten konnte sie sich nicht erinnern. Damals war sie Merit gewesen. Bisher hatte sie in der Rückschau aber noch nicht Merits gesamtes Leben überblicken können. Sie würde einige Sitzungen benötigen, um mehr zu erfahren. Bis das geschehen war, konnte sie nur Bruchstücke aufschreiben. Aber als Einstimmung auf ihr damaliges Leben war das hier genau richtig. Sie begann zu schreiben.
Merit strebte eilig auf den Tempel des Amun zu, wo ihr Dienst in wenigen Augenblicken begann. Sie hatte sich verspätet, was nicht vorkommen sollte. Bisher war sie ihren Verpflichtungen immer zuverlässig nachgekommen und es sollte auch heute keine Ausnahme davon geben. Sie stolperte durch den Sand, der immer wieder in ihre einfachen Sandalen geriet. Auch jetzt, am Morgen, war schon die Hitze des kommenden Tages zu spüren.
Am ersten Tor zum Tempeleingang erwartete sie einer der niederen Priester. Als er bemerkte, dass sie außer Atem war, legte er seine rechte Hand auf ihren Oberkörper und hinderte sie am Weitergehen.
Sie blieb stehen. Als sich ihr Atem beruhigt hatte, durfte sie ihren Weg fortsetzen. Die Priester nutzten jede Gelegenheit, um zu zeigen, dass hier ihre Gesetze galten.
Sie fragte sich, wozu das gut sein sollte. Schließlich hatte sie nichts mit dem Dienst an Amun zu tun. Das war männlichen Priestern vorbehalten. Sie war nur eine einfache Dienerin, zuständig für Nahrungszubereitung, Säubern der Unterkünfte und noch einen weiteren Dienst, an den sie jetzt nicht unbedingt denken wollte.
Immerhin hatte bisher noch nie einer der Priester einen derartigen Dienst von ihr verlangt, auch wenn sie bereits sechzehn Sommer erlebt hatte. Lange würde es wohl nicht mehr dauern. Eine Weigerung käme dann nicht in Frage. Ihr Körper gehörte nicht ihr selbst. Sie war Eigentum des Tempels.
Zu ihrem Glück zogen es die meisten Priester vor, enthaltsam zu leben, um ihrem Gott besser dienen zu können. Doch es gab auch andere, die auf fleischliche Genüsse nicht verzichten wollten. Es war nicht verboten, diesen körperlichen Bedürfnissen zu folgen. Nur eine Heirat war nicht gestattet.
Ihr wurde die Aufgabe zugewiesen, die leeren Unterkünfte vorzubereiten. Heute sollten die neuen Anwärter für das Priesteramt eintreffen. Nach langer Zeit des Suchens ohne Erfolg würden heute gleich drei junge Männer jeweils einen Raum bewohnen und im Lauf des Jahres auf ihre Eignung als Priester geprüft werden. Sie wurden jeweils einem älteren, erfahrenen Priester zugeteilt, der die Aufgabe hatte, sie anzuleiten.
Als schließlich am Nachmittag die drei Anwärter im Kreis ihrer Familien eintrafen, war alles bereit, auch ein einfaches Mahl für die Abschiedszeremonie. Nach diesem Mahl verabschiedeten sich die Familien von den jungen Männern, die jetzt zum Tempel gehörten.
Merit wunderte sich, dass es keine Anzeichen für Trauer gab. Man ließ die Anwärter nach einer einfachen Verabschiedung einfach zurück und ging. Schließlich war es eine hohe Ehre, in den Tempel aufgenommen zu werden und Familien, die einen Priester aus ihren Reihen vorweisen konnten, gewannen an Ansehen in der Gesellschaft. Dennoch, ein weiterer Kontakt zu den künftigen Priestern war nicht gestattet und somit waren sie für ihre Familien verloren.
Merit und eine weitere Dienerin, Bessara, räumten die Überreste des Mahls ab. Sie durften davon ihren Hunger stillen. Anschließend mussten sie warten, bis die älteren Priester ihren Schützlingen die Kopfhaare abrasiert hatten. Die Priester nahmen damit ihre Aufgabe als Lehrer an, die Anwärter zeigten, dass sie den Anweisungen der Älteren Folge leisten würden.
Merit beobachtete die jungen Männer während der Zeremonie. Farik, der kleinste der Anwärter, saß mit leuchtenden Augen auf dem Hocker. Er freute sich offensichtlich auf seine kommenden Aufgaben. Er war sehr mager. Merit dachte, man müsste ihm mehr zu essen geben.
Kerlak hatte seine Augenbrauen zusammengezogen und sah mit konzentriertem Blick auf das kleine Feuer in der Schale vor ihm. Es war unmöglich zu deuten, was in seinem Kopf vorging. Seine gedrungene Gestalt wirkte muskulös. Merit empfand Unbehagen, wenn sie ihn ansah. Es schien ihn eine Dunkelheit zu umgeben, die sie bei anderen Menschen bisher nicht wahrgenommen hatte.
Der letzte, Shokar, hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Er war am größten gewachsen von den neuen Schülern. Er ließ die Rasur fast ohne Regung über sich ergehen. Allerdings huschte sein Blick gelegentlich in die Richtung, in die seine Familie verschwunden war.
Merit fühlte sich irgendwie zu ihm hingezogen. Anscheinend war es Shokar doch nicht gleichgültig, dass er seine Familie aufgeben musste. Das machte ihn in Merits Augen menschlicher als die anderen beiden, die wohl schon gänzlich unter dem Bann des Kommenden standen.
Merit und Bessara fegten die Haare zusammen, welche in der Feuerschale verbrannt wurden. Von nun an musste dies immer geschehen. Auch Fingernägel oder Fußnägel wurden so vernichtet. Damit sollte verhindert werden, dass jemand sich diese persönlichen Gegenstände zunutze machen konnte, um Macht über die betreffende Person ausüben zu können.
Atun, der Lehrer Shokars, winkte Merit zu sich.
„Du wirst diesem Anwärter dienen und seine Bedürfnisse erfüllen. Dies ist von jetzt an deine Aufgabe.“
Da war sie – die Aufgabe, die sie bisher nicht erfüllen musste. Jetzt wurde sie verlangt! Merit fühlte eine plötzliche Schwäche im Magen und schluckte hastig. Immerhin wurde ihr Shokar zugewiesen, den sie zuvor doch noch als angenehmsten unter den Anwärtern angesehen hatte.
Shokar blickte scheu zu ihr hinüber. Er wusste offenbar nicht, wie weit ihr Dienst gehen sollte. Ein anderer Blick ließ sie erstarren: Kerlak sah hasserfüllt zu ihr hin. Nein, Hass war wohl nicht das richtige Wort. War es nicht eher Begierde, die seine Augen glühen ließ? Kerlak wusste anscheinend sehr genau, was ein persönlicher Dienst bedeutete. Und er hatte sie für sich haben wollen. Kurz erschien es, als wollte er aufbegehren und Merit für sich beanspruchen, doch ein strenger Blick seines Lehrers Sunit ließ ihn zusammensinken und seinen Mund geschlossen halten.
Читать дальше