„Und du, warum bist du da?“
„Weil ... weil ich auf der Suche nach Gott bin, und weil ...“
Manni zog eine Grimasse und hielt seine Hände krallenförmig über mich. „... weil du in den Fängen eines betörenden Weibes deinen letzten Funken Verstand verloren hast.“
Ich klopfte mit dem Finger ein paar Mal gegen seinen Kopf. „Ich hatte da drin bei dir mehr vermutet. So flach bist du doch gar nicht. Die Sehnsucht nach etwas Höherem hast du doch auch, dafür kenne ich dich viel zu gut.“
Manni lachte. „Und du glaubst wirklich, in diesem komischen Laden wirst du was Höheres entdecken?“
„Klugscheißer“, dachte ich, doch seine Frage hatte ihr Ziel nicht verfehlt.
Als er mein Zögern bemerkte, setzte er sofort nach. „Vielleicht musst du ja sogar Judith aus den Fängen dieser Sekte befreien. Vielleicht wird sie durch Gehirnwäsche manipuliert. Ein undurchsichtiges Netz von Psychoterror hat euch alle ergriffen. Es gibt kein Entkommen, kein Entrinnen ...“
Ich boxte ihm lachend in die Seite. „Du bist immer noch der gleiche Schwätzer. Komm doch einfach mal mit, wenn du es genau wissen willst.“
Manni winkte ab. „Ach lass mal, zum Glauben brauche ich nicht so einen Verein.“
„Das sieht man dir an“, sagte ich, „wie weit bist du mit deinem Glauben an ein höheres Wesen denn schon gekommen?“
„Was meinst du mit ‚wie weit‘?“
„Ich meine damit, dass mir irgendein Glaube an irgendwas Höheres nicht reicht. Willst du denn gar nicht mehr wissen?“
Manni sah mich beschwörend an und hielt mir sein leeres Bierglas vor den Mund wie ein Reporter das Mikrofon. „Meine Damen und Herren, nach langen Recherchen ist es mir endlich gelungen, ein weiteres Opfer der ‚Gemeinschaft zur ewigen Glückseligkeit‘ ausfindig zu machen. Wie er mir soeben unter Tränen gestand, steht er ganz unter dem Einfluss eines weiblichen Sektenmitgliedes. Können Sie unseren Hörern erklären, mit welchen Methoden diese Frau es geschafft hat, Sie zu einem willenlosen Werkzeug zu machen?“
Ich nahm Manni das Glas aus der Hand. „Wenn ich dir noch ein Bier austun soll, kannst du das auch anders sagen.“
Er war wirklich ein unverbesserlicher Schwätzer, ein Blödmann, eine hohle Nuss. Nichts hatte er kapiert, gar nichts. Von diesem Schwachkopf da vor mir wollte ich mich nun wirklich nicht beeinflussen lassen.
Wie die Ewigkeit in die Fußgängerzone kommt und ich zur kommunistischen Urzelle werde.
Natürlich waren wir beim Straßeneinsatz dabei. Judith hatte uns längst in die Liste eingetragen; irgendwann hatte sie mir wohl davon erzählt, und ich hatte möglicherweise nicht richtig zugehört – oder so ähnlich. Auf jeden Fall standen wir jetzt am Verkehrsknotenpunkt unserer Fußgängerzone, es war 11.30 Uhr, und mir war unwohl. Wir waren zu viert: Johannes, Judith und ich und noch ein anderer Mann, den ich aber nicht näher kannte. Wir hatten uns auf Sichtweite voneinander entfernt.
In meiner Jackentasche hatte ich ein Päckchen Traktate, in der Hand hielt ich verstohlen ein Dutzend der Blätter. Ich wollte versuchen, sie so rationell und unauffällig wie möglich zu verteilen. Also sah ich mir die Passanten an. Ich brauchte jemanden, der nicht zu hektisch an mir vorüberhasten würde, auch musste er wenigstens eine Hand frei haben, um das Blättchen entgegenzunehmen. Aber bloß nicht diesen Pulk Jugendlicher da vorne. Die würden mich doch nur anglotzen wie einen Alien und loslachen. Die da, die wäre nicht schlecht, Hausfrau beim Einkaufen, um die 45 Jahre, zügiger Schritt, eine große Tüte von Karstadt in der Hand. Ich trat ein paar Schritte vor aus meiner Deckung heraus und hielt ihr einen Zettel so vor die Nase, dass sie nur noch wie automatisch zugreifen konnte. „Darf ich Ihnen etwas zum Lesen mitgeben?“, murmelte ich dabei. Sie blickte kurz erstaunt auf, und schon war die Übergabe erfolgt. Sie verschwand in der Menge, und ich trat wieder etwas zurück, raus aus dem Hauptstrom der Passanten, bis ich die schützende Hauswand im Rücken spürte.
Ich sah zu Judith rüber, sie hatte mich beobachtet und winkte mir aufmunternd zu. Ich lächelte etwas steif zurück und schielte dann zu meiner Armbanduhr. Es waren gerade fünf Minuten meines Einsatzes vergangen, eine Stunde und 25 Minuten lagen noch vor mir.
Mist, durchfuhr es mich, warum hast du damals mit dem Handzettel bloß nicht weitergemacht? Vielleicht hätte man sich ja doch noch geeinigt? Mit so einem „Was ist Leben?“ hätte ich jetzt etwas anders da gestanden. Mit dem Satz hätte ich von den Tierschützern bis zu den Anhängern der ganzheitlichen Medizin alle angesprochenen. Oder wie wäre es mit einem ganz anderen Thema? Ich könnte die Leute fragen: „Was halten Sie von der aktuellen Bundespolitik?“, oder wenigstens „Was halten Sie vom Fernsehprogramm?“ Mit so was würde ich bestimmt offene Türen einrennen. Aber jetzt hatte ich ein „Wo wirst du die Ewigkeit verbringen?“ auf dem Traktat und dazu einen Sonnenuntergang von penetranter Schönheit. Oder sollte es ein Sonnenaufgang sein? Der Morgenschein der Auferstehung gewissermaßen?
Der nächste Kunde, der in mein Kandidatenraster passte, näherte sich meinem Standort. Wieder mittleres Alter, mittlere Schrittgeschwindigkeit, mittleres Emotionspotenzial im Gesicht. Ich stellte mich ihm halb in den Weg, dann kam mein „Darf ich Ihnen etwas zum Lesen mitgeben?“ und wieder drei Schritte zurück.
Na ja, es schien zu funktionieren, ich würde die Zeit schon gut schaffen. Ich fühlte in der Tasche das Päckchen Traktate, vielleicht würde ich die ja doch noch unters Volk bringen. Nur eines durfte nicht passieren, es durften keine Nachbarn, Arbeitskollegen oder ähnliche Mitmenschen zwischen halb zwölf und eins hier vorbeikommen.
Ich sah zu meinen drei Mitstreitern hinüber. Judith war schon in ein Gespräch verwickelt. Das war mir zwar unbegreiflich, aber es passte zu ihr. Jemand, der am Telefon mit „Falsch verbunden“ zehn Minuten reden konnte, der konnte auch mit „Wo wirst du die Ewigkeit verbringen?“ Leute ansprechen. Johannes dagegen stand mitten im Strom der Menschen und hielt ein Traktat in Brusthöhe. Dabei versuchte er immer wieder, jemanden anzusprechen. Jetzt gerade ging er auf eine junge, elegante Frau zu, so was Hochbeiniges mit einem Täschchen von Douglas in der einen Hand und einer Hundeleine mit Yorkshire-Terrier in der anderen Hand. Sie verlangsamte wohl etwas ihren Gang, blieb aber nicht stehen. Johannes wollte diese Gunst wohl nutzen und lief beständig auf sie einredend neben ihr her. Dabei wirkte er auch ohne Buckel wie Quasimodo, der um die Gunst der schönen Esmeralda warb. Der Vierte in unserem Quartett stand dagegen eher unauffällig am Ausgang von Karstadt und versuchte wie ich, ein paar Blättchen loszuwerden.
Und dann passierte es doch. Ich hätte es ahnen können, aber ich hatte gehofft, es würde nicht dazu kommen. Da hinten näherte sich ein bekanntes Gesicht! Nicht irgendeines, nein, es war Manni in Begleitung von einem Typen, den ich flüchtig kannte. Der hatte früher in seiner WG gewohnt, irgend so ein ultralinker Chaot. Blitzschnell hielt ich Ausschau nach möglichen Rückzugsgebieten. Vielleicht könnte ich ins Reisebüro hinter mir verschwinden und eine Pazifik-Kreuzfahrt buchen, vielleicht könnte ich im Schaufenster des Sanitätshauses die Toilettenstühle und Brustprothesen studieren. Aber dann sah ich Judith. Sie winkte mir fröhlich zu und deutete mit einer Hand in Mannis Richtung. Auch sie hatte ihn also schon entdeckt, und ich – ich saß in der Falle. Kein Toilettenstuhl und kein Traumschiff konnten mich retten.
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