Huiiii … wie war das schön da. Wir tanzten unsere Namen, formten unsere Gedanken aus Lehm und umarmten dicke, alte Laubbäume mit knorzigen Stämmen. Eine ebenso knorzige Krankenschwester erklärte: „Biiitteee, nur Laubbäume umarmen, ja? Die Nadelbäume san die Orschlöcher unter den Bäumen.“ Wir sangen Lieder, malten Bilder und machten Rollenspiele. Allerdings klinkte ich mich nicht, wie es für Borderliner typisch wäre, bei den Rollenspielen aus und prügelte aggressiv auf die anderen Kinder ein. Meine Bilder zeigten keine schwarz-weißen Schmierereien mit blutbeschmierten Monstern, sondern viele bunte Blumen und lachende Kindergesichter. Beim Singen und Musizieren im Garten mit den anderen Kindern hatte ich ordentlich Spaß. Nur Jonny Hill schaffte es, mich vollkommen aus dem Sattel zu kippen. Kurzfristig galt ich in der Station sogar als nicht therapierbar und Dr. Pakowitz riet meinen Eltern: „Sie wer´n sich vielleicht an den Gedanken g´wöhnen müss´n, fortan mit diesem Damien aus dem Film „Omen“ zusammen leb´n zu müss´n. Das Leb´n is halt leider net: „Wüsch dir was“ sonder eher: „So isses.“
Als scheinbar urplötzlich meine Stimmungsschwankungen aufhörten, schrieb man den therapeutischen Erfolg den täglichen Therapiesitzunge zu und entließ mich nach Hause. Mutti und Papa holten mich mit Tränen in den Augen aus der Kinder-Klapse ab und versprachen Dr. Pakowitz, ewig dankbar zu sein und ihm zu Ehren ein Kapellchen zu errichten. „No, mir wäre es schon lieber, Sie würden eine fürstliche Dankessumme auf die Cayman-Inseln überweisen.“
Ich war geheilt. Ich durfte wieder in die Schule.
Als die gute Seele der Kinder-Klapse, Schwester Inga Kochs-lowski, den Raum für das nächste Kind vorbereitete, fand sie einen betagten Kassettenrekorder, in dessen Laufwerk sich circa vier Meter Tonband gekrempelt hatte. Durch den heiß laufenden Motor verschmolz das Band komplett mit dem Rest des Gerätes, zu einem, Brocken Plastik, den Schwester Inga ordentlich entsorgte.
Aber was bitte veranlasste einen Musiker, solche Texte zu schreiben? Sollten Musiker nicht dreckige Gitarren-Riffs aneinanderreihen, die sie in die Menge prügeln, anstatt junge Stadtkinder zum Heulen zu bringen? Hatte man den Herrn Hill eigentlich mal dazu befragt? Insgesamt drei Kinderhasserlieder hat er geschrieben und ich wette, ich war nicht der Einzige, der damals heulend vor dem Radio saß. Ich möchte ihnen etwas verraten: Musiker, die solche Texte schreiben, stippen auch kleine Kinder in den Kaffee und schubsen junge Hunde in Pfützen. So.
Ein bleibendes Trauma habe ich dadurch nicht zurückbehalten. Na ja, gut, bis auf diese leise, helle Kinderstimme, die ich hin und wieder höre und die mir zuflüstert: „Bring den Arzt um. Bring den Arzt um“, aber ich messe ihr keinerlei Bedeutung zu. Also, noch nicht.
(Trio)
„Hihihi......Schwanzparade hat er gesungen. Habt ihr´s gehört?“, „Ja, ja, Schwanzparade. Voll krass, hab ich auch gehört“ oder „Boah, Schwanzparade, hey.“
Das waren so die ersten Reaktionen von uns, als wir das erste Mal „Los Paul“ von Trio hörten. Das war insofern von Bedeutung, da zwei brave Konfirmandengruppen aus zwei Kirchengemeinden auf dem Weg zur Konfirmandenfreizeit ins mittelfränkische Neuendettelsau waren. Und damit ging es ja schon mal los. Natürlich wussten wir von unserem Pfarrer, dass sich der Name dieses Ortes NeuendettelsAU aussprach, also mit der Betonung auf AU. Aber sehr zum Leidwesen aller, konnte man Jugendliche in unserem Alter schon mit den dämlichsten Wörtern zum Kichern bringen. Wörter, wie KettenGLIED, URINstinkt oder ASCHaffenburg reichten vollkommen aus, um uns in einen Haufen kichernder Blödmänner zu verwandeln. Daher fuhren unsere Betreuer auch nach NeuendettelsAU, wir dagegen fuhren alle in ein Kaff, das NeuendettelSAU hieß. Das war eben damals witzig. Ja, ich weiß, was Sie denken, aber wir lachten uns damals ja auch über Didi Hallervordens „Palim, Palim“ und „Ich hätte gerne eine Flasche Pommes frites“ kaputt. So war das eben damals.
Als unser Bus auf der Autobahn Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, suchte der Busfahrer im Radio sehr sorgfältig seinen Lieblingssender Bayern 2 und wir durften einem Bericht über einen ländlichen Rindermastbetrieb in den Allgäuer Bergen zuhören und wir sahen, wie sich beim Busfahrer zu der Marschmusik der Mühlberger Blashydranten bei jedem einzelnen Ton der Tuba die Wangen aufblähten, als würde er in Gedanken eine Tuba spielen. Für uns sah er damit allerdings eher aus, als würde am Steuer ein fetter, grüner Frosch sitzen, der unseren Bus fährt. Egal, was es war, wir mochten es nicht. Also, um genau zu sein, hassten wir es sogar. Daher wagte sich ein Junge aus der anderen Konfirmandengruppe, Andi war sein Name, zum Busfahrer und gab ihm eine Kassette, mit der Bitte, diese doch mal abzuspielen. Welche Kassette Andi dem Busfahrer gab, wussten wir nicht, aber er wurde, nicht zuletzt durch diese Kassette, zu einem meiner besten Freunde. Der fette Busfahrer-Frosch war es wohl gewohnt, dass Schüler ihm Kassetten reichten, denn er schob die Kassette mit einer Mischung aus Desinteresse und Langeweile in den Kassettenschacht des Radios, während sich immer noch froschmäßig seine Backen rhythmisch aufblähten und er scheinbar immer noch Kopf-Tuba spielte.
Andis Musikgeschmack schien auf dem ersten Blick klar. Andi war ein Popper. Und Popper hörten Sachen, wie ABC oder Spandau Ballet, vielleicht noch Ultra Vox. Also, so richtige Schnüü-Musik. Leichte Kost eben. Sollte uns aber recht sein, denn die Mühlberger Blashydranten verbreiteten eine eher gedrückte Stimmung. Es knackte in den Lautsprechern des Busses, als die Kassette anfing, zu drehen, und die Marschmusik verstummte abrupt.
Eine verzerrte E-Gitarre prügelte stakkatoartig gespielte Akkorde durch die Boxen, unterstützt nur durch ein Schlagzeug, mit ebenfalls im Stakkatorhythmus gespielter Snaredrum. Die Snare hämmerte wie ein Presslufthammer immer die Sechzehntelnoten zur Gitarre. Heilige Scheiße, was da lief, war ja richtiger Punk.
Und dann sprach plötzlich der Sänger, oder halt, nein, genauer gesagt, quäkte er sehr blechern durch ein Megaphon: „Los Paul, du musst ihm voll in die Eier hau´n ......“, die ersten Teenager-Ohren stellten sich auf, Konfirmanden blickten sich an: „Was war das? In die Eier hau´n?“ Leicht irritierte Blicke unter den mitfahrenden Betreuern. Zweifellos hatte Herr Remmler ab da ihre volle Aufmerksamkeit: „ ... das ist die Art von Gewalt, die wir seh´n woll´n. Wenn auch nicht spür´n woll´n ....“VerschiedenenKonfirmanden steckten ihre Köpfe zusammen und grinsten blöd vor sich hin, während sich die Betreuer etwas ratsuchend ansahen. Na, das könnte interessant werden. Dann der Refrain: „...dann werd´ich dich verlassen und dann kannst du mich - von hinten seh´n...“. Schnelle, laute und aggressive Stromgitarren-Musik mit wütenden Punkrock-Rhythmen. Der Herr Pfarrer legte das Buch, in dem er las, auf den Knien ab und blickte auf: „Leiht euch Kohle, damit´s uns besser geht ....“ In den hinteren Reihen begannen die ersten Konfirmandenköpfe rhythmisch im Takt mit zu nicken. Die Augen des Busfahrer-Froschs huschten nervös im Rückspiegel hin und her, er suchte vermutlich nach Andi, während sich immer noch seine Backen aufblähten: „ ... viele bunte Knöpfe an der Uniform. Danke schön. BATSCH ...“ Der Herr Pfarrer legte den Kopf etwas zur Seite, als würde er seine Ohren wie eine Fledermaus besser zur Musik ausrichten, um den blechernen Sprechgesang besser verstehen zu können. Herr Remmler quäkte weiter: „ .... ham mich abgelenkt, bei so nem ernsten Thema ...“ Konfirmandenfüße stampften den schnellen Rhythmus auf dem Busboden vibrierend mit. In verschiedenen Reihen streckten sich vereinzelte Fäuste nach oben und machten den „Satansgruß“. Der Kopf vom Herr Pfarrer erhob sich langsam über die Kopfstütze seines Sitzes und dreht sich, wie im Film „Der Exorzist“, langsam um 180 Grad nach hinten und ebenso langsam wieder nach vorne. Einige Betreuer hielten die Köpfe zusammen und tauschten sich aus. Kopfschütteln: „... Schwanzparade. Warum sind keine Fotografen hier …“ Eine La Ola-Welle schwappte von Sitz zu Sitz, von vorne nach hinten durch den Bus. Man sah genau, wo der Text gerade angekommen war: „Schwanzparade. Habt ihr´s auch gehört?“, „Hihi ... der hat Schwanzparade gesungen“. Eine Reihe Mädchen dazwischen: „Iiiiiih ... Schwanzparade“, eine Reihe Jungs dahinter: „Schwanzparade. Krass“. Der Herr Pfarrer fragend: „Schwanzparade? Hat der da gerade Schwanzparade gesungen?“ Die Betreuer nickten zustimmend: „Ja, ja. Schwanzparadehaben wir auch verstanden.“ Die erste Strophe wiederholte sich: „Los Paul. Du musst ihm voll in die Eier hau´n ...“ Hilfesuchende Blicke der Betreuer. Dann hörte man im Lied noch weitere Fußballkommentatoren sprechen und das Attentat auf Ronald Reagen wurde eingespielt. Peng. Peng. Peng. Schüsse waren zu hören. Völlige Begeisterung bei der Konfirmandengruppe. Der ganze Bus machte den „Satansgruß“ und schüttelte im Rhythmus die Köpfe. Einzig Konfirmand Andi rutschte schweigend tiefer in den Sitz. Refrain: „Du hast Macht über dich, trotzdem brauch´...“ Knack. Die Musik stoppte plötzlich und der Busfahrer reichte knackend und knistern das Mikrofon an den Herr Pfarrer weiter. Wieder krachen und knacken in den Buslautsprechern: „Pfff, pfff, pfff, eins, zwei, drei. Kann man mich hören ...?“ Dann eine Ansage vom Herr Pfarrer: „Hat denn jemand noch eine andere Kassette dabei? So ein bisschen was poppiges oder so? Ähm... ja, die andere Kassette kann nach der Fahrt hier vorne beim Busfahrer abgeholt werden.“ Knacken in den Lautsprechern. Es ertönte eine Reportage von einem bayerischen Rindermastbetrieb in den Allgäuer Bergen, gefolgt von den Himmelsberger Schädelknackern, die das „Allgäuer Lied“ mit Solo für Trompete anstimmten und der Busfahrer spielte wieder Kopf-Tuba.
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