Was hatte dies zu bedeuten? Ingrid strich über den Bibeleinband. »Damit möchte ich euch sagen, dass ihr keine Angst haben müsst. Wenn wir zusammenhalten und uns gegenseitig helfen, dann wird uns nichts geschehen. Der Donner und die Blitze werden über uns hinweg schweben. Reichen wir uns die Hände.« Er deutete zu den Kindern. »Diese Jungen und Mädchen suchen ein neues Zuhause. Sie sollen bei euch leben, zur Schule gehen und ein unbeschwertes Leben führen. Bis der Donner vorbei und der Frieden zurückkehrt.«
Lautes Gemurmel ertönte aus den Ecken der Kirche. »Vorübergehend könnten einige Jungen und Mädchen in unserem Elternhaus leben«, brachte Clara hervor.
»Still.« Ingrid griff nach Claras Handgelenk und zog den Arm, den ihre Schwester in die Höhe gestreckt hatte, hinab. »Vielleicht haben sie Läuse. Sie verpesten das ganze Haus.«
»Also ich könnte zwei Kinder aufnehmen«, sagte Louise und bedachte Ingrid mit einem scharfen Blick. Er bohrte sich in ihr Herz und begann ihr Luft zu machen. »In Ordnung«, murmelte sie.
»Das ist nett Louise. Clara was ist mit dem Haus? Steht das Angebot?« Der Pfarrer rieb sich seine Hände. »Ja. Das Haus hat drei Schlafzimmer. Badezimmer, Wohnzimmer und Küche.«
»Das ist nett.« Er teilte die Kinder in Gruppen. Weitere Frauen meldeten sich und nahmen - sich meistens eins oder auch zwei - je nach Zimmer mit. Verstohlen blickte Ingrid zum Pfarrer. Sie vermochte nicht zu denken, dass in ihrem Haus ein ungebetener Gast wohnte, doch sie wollte auch nicht als eiskalter Engel da stehen, und erbarmte sich. »Ich hätte gerne das junge Mädchen dort.« Die junge Frau deutete zu einem abgemagerten Mädchen mit großen Augen und filzigen Haaren. Ingrid stand auf und legte ihre Hand unter ihr Kinn. »Wie alt bist du?«
»Vierzehn«, sagte das Mädchen mit piepsender Stimme.
»Und wie heißt du?«
»Martha.«
»Okay. Ich werde dich mitnehmen. Du bekommst etwas zu essen, ein Bad und eine Bleibe.«
»Danke Frau Ludwig.« Ingrid wusste, dass der Pfarrer bedenken hatte. Seit den Monaten, in denen Josef sich im Krieg befand, hatte sich Ingrid rapide verändert. Ihr Herz ist erkaltet. Jeden Abend weint sie sich in den Schlaf, während Clara nebenan schlief.
Als sie zu Hause angekommen waren, führte Ingrid Martha, die nur einige Jahre jünger als die Hausherrin war, durch die Zimmer. Jedoch wirkte die zurückgelassene Ehefrau viel älter. Sie erläuterte Martha ihren Tagesablauf und brachte sie danach in die Küche. Von dort aus führte sie das Mädchen in eine kleine Kammer in der sich eine Pritsche und Kommode befand.
»Hier wirst du schlafen. Nach der Schule wirst du mir und meiner Schwester im Haushalt helfen. Wenn deine Arbeiten erledigt sind, kannst du dich mit deinen Freunden treffen.« Ingrid drehte sich, blieb an der Tür stehen und wand sich erneut um. »Du kannst dich ein wenig ausruhen, dich einrichten. Clara wird die Kleidung bringen und dir ein Bad einlassen. In einer Stunde gibt es Abendbrot im großen Salon.« Damit ließ Ingrid Martha allein zurück. Das junge Mädchen stellte ihren Koffer auf der Pritsche ab und zog einige Kleidungsstücke hervor. Sie waren teils von Motten zerfressen oder einfach zu klein. Auf dem Kopfkissen lag eine Bibel. »Ich vermisse dich Mama.«
»Denkst du sie wird sich hier wohlfühlen?«, fragte Clara, während sie die Nadel in den Stoff des Kleides stach. »Ich hoffe.«
»Warum zum Teufel hast du ihr die Kammer neben der Küche gegeben? Ich meine, das ist doch nicht das richtige für ein Mädchen in unserem Alter.«
»Ich hab ihr doch nicht die Kühlkammer gegeben.« Ingrid schnaubte und blickte aus dem Fenster.
Clara knotete den Faden und schaute sich ihr Werk an. »Fertig.« Sie stand auf und ließ ihre Schwester, die in Gedanken versunken war, allein im Wohnbereich. Clara folgte dem Dampf, des heißen Wassers, welches sie in die kupferfarbene Badewanne getan hatte. Der Dampf kroch durch die Ritzen der Tür und schwebte ihr wie ein Geist entgegen. »Martha.« Clara klopfte an die Tür.
»Ja. Bitte.«
Clara öffnete auf Marthas Bitte die Tür. »Ich habe das Kleid fertig. Du kannst es gleich anziehen. Ich werde es hier über den Hocker legen.« Ohne einen Blick auf die Wanne zu riskieren, schloss Clara behutsam die Tür. Danach tat sie drei, statt zwei Teller auf den Tisch. »Morgen werde ich im Garten die Samen einpflanzen«, sagte Clara, doch Ingrid saß immer noch abwesend in ihrem Sessel.
Die Nachmittagssonne stand hoch am Himmel, als Clara in dem wild bewachsenen Garten ihr Gemüsebeet absteckte. Martha grub kleine Löcher und verteilte die Samen und Pflanzen, die sie gemeinsam mit Clara auf einem der angrenzenden Höfe gegen zwei Körbe Äpfel eingetauscht hatten. Jetzt besaßen sie nicht nur die verschiedenen wild gewachsenen Obstbäume, sondern Kartoffeln, Karotten, Bohnen und weitere Gemüsesorten. Zusätzlich kauften sie zu den zwei Pferden, Hühner und Schweine. Niels, ihr Hochzeitsbegleiter, kam immerzu zum Haus und half in den Ställen. Ingrid belohnte ihn mit einem Stück Brot oder etwas Butter für die Familie.
»Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass die Pflanzen sich hier wohlfühlen.« Clara schaute gen Himmel. »Wieso? Sind wir schon spät dran.«
»Eigentlich ist die Anpflanzung nur von März bis September. Aber das Wetter ist mild und der Schnee würde sicher erst später kommen.«
»Vielleicht haben wir ja Glück.« Martha wischte sich mit dem Unterarm die wenigen Schweißtropfen von der Stirn ab.
Urplötzlich ertönte ein an und abschwellender Heulton. Clara und Martha blickten sich an, blickten zum Himmel und nahmen ihre Beine in die Hand. Fliegeralarm!
Sie schlossen die Türen und suchten sich den Weg in den Keller. Ingrid, die den Tag über in ihrem Sessel verbracht hatte, stand auf und folgte den beiden Mädchen. An der Treppe hatte sie einen Rucksack mit Schutzraumgebäck von Martha packen lassen. Sie schulterte ihn und trat in den kahlen Kellerstreifen, der von der Küche abging. Am Ende des Ganges waren die Vorräte auf einem Regal abgestellt worden. Körbe mit Äpfeln und Pflaumen. Die letzten Wochen war Martha damit beschäftigt Obst und Beeren einzudünsten, Marmelade einzukochen, Sauerkraut und Eier einzulegen, Frischgemüse einzustampfen und Kartoffeln einzulagern. Ingrid hatte dem Mädchen ihr Hausbuch für Familien gegeben, welches sie bei ihrer Hochzeit mit Josef bekommen hatte. Dort stand detailliert drinnen, was eine Frau zu tun hat und wie sie diese zu bewältigen hatte. »Mensch Ingrid. Diese Aufgaben sind für die Ehefrau bestimmt und nicht für ein Kind, welches wir durch die Kindeslandverschickung aufgenommen haben«, erklärte Clara ihrer Schwester bestürzt über ihr Verhalten. »Wie kannst du es wagen mir in meinem Haus zu widersprechen«, hatte Ingrid ausgeteilt und den Finger erhoben. »Ich habe sie nicht zu mir genommen, damit sie hier wie ein Kind leben kann. Sie muss lernen, dass das Leben nicht nur aus Freizeit und Freude besteht.«
Clara hatte nichts weiter gesagt, denn es war sinnlos sich mit ihrer Schwester darum zu schlagen was richtig oder falsch war. Doch innerlich hoffte sie, dass Ingrid nie eigene Kinder haben würde.
Im Keller setzten sich die drei auf klapprige Stühle und warten, bis die Flugzeuge über ihre Köpfe hinweg flogen. Trotz ihres Verweilens im Keller konnten sie die brummenden Motoren gut hören. Als die Stille nach Momenten der Angst zurückgekehrt war, standen sie wortlos auf und begannen ihren täglichen Pflichten nachzugehen. Die Insel blieb verschont, so dass niemand zum Roten Kreuz oder ins Krankenhaus musste.
Weitere Tage vergingen in denen Ingrid nichts weiter tat, als aus dem Fenster zu schauen.
Sie wartete auf Feldpost von ihrem Gatten. In den ersten Tagen hatte der Weg zur Post noch ihr Leben regiert. Doch seit einigen Wochen hatte sie die Hoffnung verloren. Immerzu musste sie sich die Szene der Verabschiedung am Hafen in den Kopf rufen. Sie hätte ihn nicht gehen lassen dürfen. Warum? Wieso? Das waren die zwei Wörter, die sie quälten. Nicht zu wissen wo er sich befand, war ebenfalls ein Makel. Nicht mal ein Kind wuchs in ihrem Bauch heran, obwohl sie in den wenigen Nächten - die sie miteinander verbrachten - sich geliebt hatten. Vormittags verweilten Clara und Martha in der Schule, während Ingrid die Ruhe im Haus genoss.
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