Jan war die unterschwellig brodelnde Spannung zwischen Smith und Patterson schon früher am Abend aufgefallen. Die Beziehung dieser auf ihre jeweils eigene Art sehr dominanten Männer war merklich angespannt. Patterson ließ keine Gelegenheit aus, Smith deutlich zu zeigen, wem in diesem Raum das letzte Wort gebührte, während in Smiths Antworten latent ein Hauch von Trotz mitschwang. Ungewöhnlich für einen Mann, der Loyalität augenscheinlich zum höchsten menschlichen Gut erhoben hatte.
„Wir reagieren alle etwas gereizt“, ergriff Patterson wieder das Wort. „Es ist allerdings auch schon ziemlich spät. Wir sollten zusehen, unsere Diskussion zu einem Ende kommen zu lassen, damit wir uns alle eine Mütze voll Schlaf gönnen können. Mr. Breitenscheidt, bitte fahren Sie fort. Wenn es geht, fassen Sie sich bitte kurz, so faszinierend das Thema auch sein mag.“ Er lächelte müde in dem Versuch, die angespannte Situation mit etwas Humor aufzulockern.
Breitenscheidt nickte fahrig und legte eine nachdenkliche Miene auf. Die Diskussion war unterbrochen worden, als Breitenscheidt gerade dazu angesetzt hatte, ihr Vorgehen bei der Suche nach potenziellen Ausgrabungsstandorten zu schildern.
Breitenscheidt war zwar Geologe, legte allerdings ein erstaunlich ausgeprägtes Faible für Humangeographie an den Tag. Genauer gesagt, wie er mehrfach mit kreisenden Bewegungen seiner Zeigefinger unterstrich, beschäftigte er sich mit den Auswirkungen der Erdoberflächenbeschaffenheit auf die kulturhistorische Entwicklung der Menschheit.
Jan wusste zwar nicht genau, was er sich darunter vorzustellen hatte, wagte es aber nicht, nachzuhaken. Obwohl Breitenscheidt sich redlich bemühte, die Fachterminologie auf ein Minimum zu reduzieren, fiel es Jan zunehmend schwerer, seinen Ausführungen zu folgen. Seine Erklärungen waren lediglich eine Aneinanderreihung von diffusen Gedankenfetzen und Sprüngen, untermalt mit verstörenden, nervösen Gesten, die in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt seines Vortrages zu stehen schienen. Alles, was Jan von über zwanzig Minuten Monolog verstanden hatte, ließ sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Auf Basis des schwachen Bildabdrucks hatte Breitenscheidt versucht, den Punkt geographisch einzugrenzen, der auf dem unscharfen Bild relativ ungenau und weitläufig markiert war. Er hatte mit modernen Karten die Topographie der gekennzeichneten Region analysiert, sie mit den geographischen Veränderungen der letzten 10.000 Jahre verglichen, und hatte letztendlich etwa zehn Kilometer von der Villa entfernt ein Areal aufgespürt, das er als ‚potenziell Erfolg versprechend’ betitelte.
„Die geographischen Gegebenheiten sind wichtige Kriterien, die wir aus der Historie heraus bei der Gründung von Siedlungen und Städten berücksichtigen müssen“, nahm Breitenscheidt seinen Faden nach einer kurzen Pause wieder auf. „Für die Entwicklung einer Kultur sind Umweltfaktoren von nicht zu unterschätzender Bedeutung.“
„In der Archäologie nutzen wir dieses Wissen, um potenzielle Standorte für frühzeitliche Siedlungen ausfindig zu machen“, fügte Susanna Pullman hinzu. „Flussmündungen sind zum Beispiel bevorzugte Standorte für Stadtgründungen, ebenso wie Standorte, die sich durch geographische Vorteile mit relativ einfachen Mitteln verteidigen ließen. Berge oder andere Erhebungen, beispielsweise.“
Breitenscheidt nickte übertrieben heftig. „Alle Siedlungsgründungen lassen sich auf solche Umweltgegebenheiten zurückführen. Klima, Flora, Fauna. Der Mensch unterliegt von Natur aus einer Reihe von Grundbedürfnissen, die er unablässig zu stillen hat. Deswegen siedelt er sich bevorzugt an Stellen an, in deren Einzugsgebiet möglichst viele seiner Bedürfnisse befriedigt werden. Das bezieht sich auf das Angebot von Wasser und Nahrung, auf die Befriedigung sozialer Bedürfnisse, aber auch auf sein Verlangen nach Sicherheit.“
Breitenscheidt leckte sich nervös über die Lippen, während er erzählte. Alles an ihm machte auf Jan den Eindruck, als spielte er ein akribisch einstudiertes Theaterstück. Jede seiner Bewegungen wirkte überspitzt, fast überzeichnet, als hätte ein nur mäßig begabter Zeichner zum Stift gegriffen und den Stereotyp eines intelligenten, aber in sozialer Hinsicht unterentwickelten Sonderlings zu Papier gebracht.
Seine hypernervöse Art machte es beinahe unmöglich, ihm längere Zeit zuzuhören oder zuzusehen, ohne Abscheu oder Mitleid zu empfinden. Mit jeder in unerträglicher Monotonie verstreichenden Minute wuchs in Jan der Drang, aufzuspringen und Breitenscheidt jede einzelne seiner merkwürdigen Angewohnheiten Wort für Wort um die Ohren zu schlagen. Auch wenn es ihm seine gute Erziehung verbot, seinen Verdacht laut auszusprechen; Jan war überzeugt, genau den Breitenscheidt dargeboten zu bekommen, den Breitenscheidt ihnen zu zeigen beabsichtigte. Ein in jahrelanger Praxis kultiviertes Erscheinungsbild, als hätte er sich eine Maske übergestreift, mit der er seinen tatsächlichen Charakter vor der Welt zu verbergen versuchte.
„Verstehen Sie? Zwar hat uns der Computerabdruck lediglich eine ungefähre Ecke vorgegeben, in der wir mit der Suche beginnen können, aber mit dem Wissen um günstige Topographien für Siedlungsgründungen konnten wir das Areal auf drei vielversprechende Standorte einschränken. Dank eines kleinen Programms, das Black uns geschrieben hat.“
Er nickte kurz anerkennend zu Black hinüber.
„Wir graben an diesen drei Stellen bereits seit etwa drei Jahren mit zwei unterschiedlichen Teams“, erklärte Susanna. „Das erste Team untersteht mir. Wir suchen in einer Ebene, die fast vollständig durch eine Hügelkette von der Außenwelt abgeschottet ist und von Frischwasserquellen mit Wasser versorgt wird.
„Wir halten diese Stelle für hochgradig verheißungsvoll“, fiel Breitenscheidt ihr ins Wort. „Sie erfüllt viele unserer Kriterien, wie Nahrungsangebot und Verteidigungsfähigkeit.“
Susanna nickte. „Gleiches gilt auch für die Ausgrabungsgebiete des zweiten und des dritten Ausgrabungsteams, die Alissa unterstanden.“ Sie hielt plötzlich inne; für den Bruchteil einer Sekunde errötete sie, als ihr bewusst wurde, was sie mit ihrer Wortwahl implizierte. „Ich meine, Alissa unterstehen“, korrigierte sie mit belegter Stimme.
Jan versuchte, ihren Einwurf zu ignorieren. Es fiel ihm ohnehin schwer genug, bei der Sache zu bleiben, auch ohne sich zusätzlich noch Sorgen über Alissas Wohlergehen zu machen. Es gelang ihm allerdings nur bedingt, seinen Kopf von solchen Gedanken zu befreien. Gedanklich kämpfte er gegen eine Flut von unzähligen Erinnerungsfetzen an seine gemeinsame Zeit mit Alissa an, die eine bunte Mischung von irritierenden Gefühlen wachriefen. Gefühle, die auf entnervende Art und Weise zeigten, wie wenig er in dem letzten Jahr nach ihrer Trennung Fortschritte gemacht hatte.
„Wonach suchen wir also?“, fragte er, um sich selbst von seinen eigenen Gedanken abzulenken. „Um ehrlich zu sein, ich bin noch nicht überzeugt. Atlantis, zugegeben, die Hinweise deuten darauf hin, aber mir fällt es trotz aller Indizien schwer, diesen Mythos als Fakt zu akzeptieren. Ich meine, ist das denn realistisch? Hätte tatsächlich eine Gruppe von Menschen vor uns eine derart überlegene Technologie entwickelt, hätten wir doch längst etwas finden müssen, das darauf hinweist!“
„Es ist und bleibt unvorstellbar, nicht wahr?“, mischte Morden sich ein. „Aber lassen Sie mich eine gewagte These aufstellen: Vielleicht existieren diese Hinweise tatsächlich, nur haben wir sie in unserer Verblendung und Arroganz nicht gesehen, oder vielleicht auch schlichtweg falsch gedeutet. Wir setzen viel zu oft einen linearen Verlauf der Geschichte voraus. Es ist doch so; wir ignorieren alle Indizien, die dieser Theorie widersprechen, oder die nicht in unser Weltbild passen. Ich behaupte, Unmengen von Beweisen nennen zu können, die wir bislang einfach falsch interpretiert haben. Im Lichte unserer neuen Erkenntnisse würden wir zu ganz anderen Schlüssen gelangen, wenn wir unsere bisherigen Fundstücke völlig objektiv bewerten würden.“
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