Von der Rückseite der Alm sprang er unsichtbar zu dem mittleren Kletterer. Es war eine Frau.
»Was ist mit dir«, fragte er, »kannst du dich halten?« Erschrocken schaute sie sich um.
»Das ist der Schock«, sagte sie zu sich selbst, »ich höre Stimmen.«
»Das ist kein Schock, ich spreche zu dir.«
»Muss ich jetzt sterben, holst du mich ab?« Es blieb ihm keine andere Wahl, er musste sich ihr zeigen. »Hör zu, ich bin kein Geist, ich zeige mich jetzt, hast du mich verstanden?«
»Wer immer du bist, ich glaube nicht an Geister.«
»Um so besser.« Kristian wollte nicht, dass sie ihn beschreiben konnte, und hatte deshalb sein Äußeres vorher verändert. Erschrocken sah sie ihn an.
»Bin ich schon tot?«
»Nein, du bist nicht tot, ich frage dich noch mal, kannst du dich halten?«
»Ich weiß nicht, wenn der Haken oben nicht hält, werden wir mit runtergerissen.«
»Darum werde ich mich kümmern, kommt ihr dann alleine hoch oder wieder runter?«
»Meine Knie zittern, ich glaube nicht.«
»Dann halte so lange aus, ich kümmere mich erst um den Mann über dir.« Wieder unsichtbar sprang er zu dem baumelnden Mann. Er hätte sie alle gleichzeitig aus der Wand holen können, wenn das Seil nicht durch etliche Sicherungshaken laufen würde. Der Mann kam langsam zu sich.
»Wo bin ich, ich schwebe.«
»Nein, du wirst gleich schweben, du bist abgestürzt.« Er merkte nicht, wie Kristian das Seil sicherte, ihn losband, und sie gemeinsam unsichtbar herunterschwebten. Kristian legte ihn unten ab. Von unten hochkommend, befreite er den unteren Kletterer vom Seil. Der schrie auf, als er sich seines Halteseils beraubt sah. Kristian musste ihn erst überreden, die Wand loszulassen. Er legte ihn unten ab und es war höchste Zeit, als er bei der Frau war. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie sich nicht mehr lange hätte halten können.
»Ich bin bei dir, lass los, du bist in Sicherheit. Sie tastete nach ihm, hielt sich krampfhaft fest und ergab sich ihrem Schicksal.« Die beiden Kletterer unten waren nicht mehr alleine. Andere Bergsteiger kümmerten sich um sie. Es fiel nicht auf, als sie beide unsichtbar herunterschwebten und er die Frau etwas abseits ablegte. Als diese merkte, dass sie festen Boden unter sich hatte, schrie sie kreischend auf. Sie stand immer noch unter Schock. Ein beherzter Mann rannte auf sie zu und gab ihr eine Ohrfeige, was sie sofort verstummen ließ.
Kristians Arbeit war getan. Er sprang zu seinem Pferd zurück. »Kannst du mir sagen, was dort passiert ist«, hörte er jemand einen anderen fragen?
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte der Angesprochene, »ich verstehe es selber nicht, erst hingen sie in der Wand, jetzt sind sie weg, sie müssen wohl abgestürzt sein.«
Kristian schwang sich auf´s Pferd und machte sich auf den Heimweg. Ein Hubschrauber schwebte über der Stelle, wo die Bergsteiger waren. Es war Mittag, als Kristian zurück war. Klara war noch nicht zurück. Kristian war nervös, hatte keinen Hunger und wartete auf Klara und das Untersuchungsergebnis. Um drei Uhr kamen sie endlich.
Dass Klara ein verheultes Gesicht hatte, war kein gutes Zeichen. Auch ihr Vater hatte feuchte Augen. Als Klara Kristian sah, rannte sie auf ihn zu und umarmte ihn. »Kristian«, erneut heulte sie los.
»Was ist, ist es so schlimm?«
»Nein, es ist nicht schlimm.«
»Und warum weinst du?«
»Ich weine vor Freude.«
»Du hast mir einen Schrecken eingejagt, erzähl schon.«
Der Vater kam, »ihre Werte haben sich gebessert.«
»Hab ich nicht von Anfang an gesagt, Klara schafft das alleine?« Klara ließ ihn nicht mehr los.
»Komm, wir gehen rein«, schlug Kristian vor. Er schob sie sanft zum Sofa. »Du hast mir was versprochen«, sagte Klara.
»Was versprochen«? fragte ihr Vater. Kristian schaute Klara warnend an.
»Oh, Kristian sagt, ich werde gesund.« Er wusste, dass Klara an das Mittelalter gedacht hatte.
Das Mittagessen war ausgefallen und Kristian war froh, dass es jetzt Kaffee und Kuchen gab. »Kristian, ich weiß nicht, wie ich ihnen danken soll.«
»Wieso mir, ich habe doch nichts gemacht.« Klara schien mit der Erklärung nicht ganz einverstanden zu sein.
»Kristian, du hast mir das positive Denken beigebracht.«
»Ja, mehr aber nicht.« Vorerst sollte Herr Melchior nicht wissen, dass er mehr getan hatte. »Du denkst doch an unseren Spaziergang«, erinnerte er Klara.«
»Ja, natürlich.«
»Entschuldigt mich«, sagte der Vater, »ich lege mich eine Stunde hin, die Aufregung war zu viel für mich.« Als sie schließlich über den Hügel schritten, sagte Kristian,
»du weißt, dass du es noch nicht geschafft hast?«
»Dass was ich weis ist, dass du mein Retter bist.«
»Übertreibst du nicht etwas?«
»Dein Vater hat auch seinen Anteil daran, ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier.« Er setzte sich ins Gras.
»Komm, wir machen es wie beim letzten Mal. Setz dich zwischen meine Knie.« Er legte ihr die Hände auf und schickte seine Heilenergie in ihren Körper. Danach lag Klara gelöst gegen seine Brust. Er wartete noch eine Weile und weckte sie dann.
»Oh, habe ich schon wieder geschlafen?«
»Ja, ein wenig. Klara, ich werde dich bald verlassen. Du brauchst meine Hilfe nicht mehr. Dein Körper hat sich auf Abwehr eingestellt. Du musst nur weiter deine Übungen machen.«
»Und was ist mit deinem Versprechen?«
»Was meinst du?«
»Du wolltest mir das Mittelalter zeigen.«
»Wenn du vollkommen gesund bist, komme ich wieder. Dein Vater hat sicher meine Telefonnummer. Und jetzt muss ich mit deinem Vater reden.«
Sie gingen zurück. Als wenn ihr Vater das gehört hatte, stand er vor dem Haus und wartete auf sie.
»In den Nachrichten kam eine Meldung über drei Bergsteiger, die aus der Wand gerettet wurden. Genaues weiß man nicht. Die gerettete Frau berichtete, ein Mann wäre neben ihr erschienen und hätte sie runtergetragen.«
»Das könnte mein Freund Edra gewesen sein, er weiß, dass ich in der Nähe bin. Ich werde sie jetzt verlassen, Klara ist auf dem Wege der Besserung. Sie braucht Edra und mich nicht mehr. Klara, wir sehen uns. Und sie Herr Melchior sollten keine Menschen mehr entführen.«
Erschrocken schaute er auf Klara.
»Ich weiß Bescheid«, sagte diese.
»Ich lass sie nach Hause bringen«, schlug ihr Vater vor. »Meinen sie nicht, dass ich als Freund von Edra dazu selbst in der Lage bin? Klara bis bald.« Langsam wurde er unsichtbar und sprang nach Großvater.
»Mensch Junge, ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
»Unsere Sorgen sind vorbei.« Dann erzählte er, was vorgefallen war. »Gehst du gegen den Vater vor«? fragte Maria.
»Maria, glaubst du das im Ernst von mir?«
»Nein, natürlich nicht.« »Was hast du jetzt vor, holst du Jessika zurück?«
»Ja, Jessika wird froh sein, wenn sie wieder bei Maria essen darf. Ich hole sie, bin gleich wieder zurück.« Auf dem Burghof war nicht viel los. Oben auf der Treppe hörte er Johannes Stimme aus den Fenstern schallen. Johannes ist der uneheliche Sohn des Grafen und ist erst seid Kurzem von der Familie anerkannt worden. Kristian klopfte. Es wurde still. Dann wurde die Tür aufgerissen, Jessika und Hanna starrten ihn an.
»Sehe ich aus wie ein Geist?« Er nahm ihnen die Entscheidung ab, wer ihn umarmen durfte. Er umarmte sie gleichzeitig. »Was ist los mit euch, ich habe keine Schlacht geschlagen. Hallo ihr Grafen.«
»Du warst lange weg«? sagte Jeanette«
»Also, als Erstes das, was ihr alle hören wollt, die Bedrohung ist vorbei.« Dann erzählte er die Geschichte.
»Ich kann den Mann verstehen«, sagte der Graf.
»Ich doch auch, ich habe dem Mädchen versprochen, sie euch vorzustellen, wenn sie gesund ist. So, wie wär’s, wenn ihr eure Sachen packt, ich wollte euch mit zurücknehmen.«
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