Einmal in der Woche ging der Vater zum Gesangverein und ein Mal zur Feuerwehr.
Am Sonntag Besuche bei der Oma, der Mutter von der Mutter. Da mussten die Kinder mit. Saßen endlos lange Nachmittage bei der Oma auf dem Sofa. Die Mutter und die Großmutter klagten. Der Vater wartete in der Gastwirtschaft nebenan. Allein beim Bier. Jeden Sonntag.
Warum hat Eri Laura ins Wasser gestoßen? Sie hatten doch nichts miteinander zu tun. Laura war Christianes Freundin. Christiane war Eris Schwester. Eri war nie dabei, wenn Laura und Christiane spielten. Warum wollte Eri Laura umbringen?
Junge Katzen ersäufte man im Fluss, weil es immer zu viele davon gab. Damals im Dorf. Auf Christianes Hof gab es auch Katzen. Die der Großvater am Leben ließ, die durften auch ins Haus. Die Katzen brachten ihre Jungen in der Scheune zur Welt. Christianes Großvater wusste, wo er die neugeborenen Kätzchen finden konnte. Er holte sie aus ihrem Nest im Heu und schlug sie mit einem Holzscheit tot.
Die Zeit, die wir die Lebensmitte hießen…
„Du bist schon auf“, wundert sich Sünje, als sie Laura an Küchentisch sitzen sieht. Laura im Schlafanzug, blaß und übernächtigt, dunkle Ringe unter den Augen.
Die Übergabe an den Hengstaufzieher war unkompliziert. Ohne großen zeitlichen Aufwand hatten sie die Tiere in die Freiheit entlassen können, waren bereits um neun Uhr abends wieder zurück und hatten sogar noch gekocht, bzw. gebraten. Steaks und Salat für Sünje und Daniel, Lachs für Laura, die aß kein Fleisch, nur Fisch. Dazu Champagner und Wein. Drei Flaschen. Ganz ordentlich. Aber deshalb sah Laura nicht so angegriffen aus. Auf Turnieren wurde immer viel Alkohol getrunken, und Laura war immer sehr trinkfest gewesen.
„Halb sieben. Leg’ dich noch mal hin. Du siehst aus, als ob du noch Schlaf nötig hättest.“
Sünje in Arbeitskleidung: Reithosen, Stiefel und Weste. Und voller Energie.
„Wir bringen die Pferde auf die Weiden. Danach reite ich. Und dann können wir zusammen frühstücken. Ab elf gebe ich Reitunterricht.“
„Ich würde mich lieber in die Badewanne legen.“ Laura gähnt.
„Seit halb vier kann ich kein Auge mehr zutun. Seit einer Stunde sitze ich hier und lese.“
Sünje schlägt das Buch auf, das vor Laura liegt. Bleibt an einem Satz hängen:
„Die Zeit, die wir die Lebensmitte hießen,
befand ich mich in einem dunklen Wald.
Weil sich der rechte Weg als falsch erwiesen.“
Blättert weiter in Dantes Göttlicher Komödie. Von der Hölle ins Fegefeuer, vom Fegefeuer ins Paradies. Gibt es nur diesen Weg?
Die Mutter wohnte zuerst im Haus von Eris Nachbarn. Dort hatte man ihr zusammen mit den Geschwistern und Eltern ein Zimmer zugewiesen. Ein Zimmer für die Eltern, zwei Brüder und drei Schwestern. Ein Zimmer für sieben Personen. Sieben Personen aus einem fremden Land, von der Gemeindeverwaltung zwangsweise eingewiesen ins Haus einer Familie im Dorf. Abends um zehn drehte der Sohn des Hauses den Strom ab. Schraubte die Sicherungen heraus. Sein Bruder war nicht zurückgekommen aus dem Krieg.
„Du kamst zur Welt und hattest Haare, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Schwarze Haare, viele schwarze Haare, die hingen Dir in die Augen, so lang waren die schon gleich nach der Geburt“, sagte die Großmutter zu Laura, da war Laura schon zehn. So etwas hatte es noch nicht gegeben. Schwarze Haare. Im Dorf waren alle blond oder hatten hellbraune Haare, im schlimmsten Fall. Die Mädchen trugen lange Zöpfe, lange blonde Zöpfe, bis zur Konfirmation.
„Zigeunerin, Zigeunerin“, riefen die Kinder, als Laura mit ihrer Freundin das erste Mal den Spielplatz im Nachbardorf besuchte.
Wechselbalg nannte man im Mittelalter Kinder, die von der Norm abwichen. Manche sahen nur etwas anders aus, hatten zum Beispiel rote Haare, das war teuflisch oder hexig. Manche waren geistig oder körperlich behindert. Da konnte es auch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Da hatte der Teufel die Hand im Spiel. Wechselbälger sind Teufelskinder, dachte man. Deshalb durfte man sie beseitigen.
Bis ins Mittelalter war Kindstötung an der Tagesordnung. Wenn es zu viele Kinder gab, wurden sie getötet vom Schäfer, oder ausgesetzt, wie bei Hänsel und Gretel.
Auch Martin Luther hatte nichts einzuwenden, wenn man sich dieser Teufelskinder entledigte.
Die Kinder wurden ins Wasser getrieben, das war im Mittelalter üblich. Sie wurden ins Wasser getrieben und ertranken.
Menschen mit einer Borderlinestörung werden von ihren Affekten überflutet und verfügen über keine zureichende Affektkontrolle. Auch Kinder haben es schwer in dieser Hinsicht, denn ihr präfrontaler Kortex, auch Stirnlappen genannt, befindet sich noch in der Entwicklung. Der Stirnlappen fungiert als Hemmungsmechanismus wenn es um Affekte geht. Das Kind schreit und schlägt zu, wenn ihm sein Spielzeug weggenommen wird.
Der gesunde Erwachsene hält inne, überlegt und sucht nach einer gewaltlosen Lösung.
Laura hatte dunkelbraune Haare und braune Augen. Laura bekam nie einen Sonnenbrand wie die anderen Kinder im Dorf. Sie wurde gleich braun. Dass sie osteuropäische Wurzeln hatte, das war offensichtlich. Der Vater hatte eine Frau aus Ungarn geheiratet.
Zehn Jahre zuvor war die Heirat zwischen Ariern und dem Mitgliedern einer fremden Rasse nicht erwünscht, fast so schlimm wie die Verbindung mit einer Jüdin. Als Lauras Vater noch zur Schule ging, musste er mit seinen Mitschülern in den Kirchenbüchern nach seinen arischen Ahnen forschen. Den Ahnenpass hat der Vater heute noch. Auch das Vorwort ist noch erhalten.
„Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des völkischen Staates muss ihre Krönung darin finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt. Es soll kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein!
Damit wird die Voraussetzung geschaffen für die Erhaltung der rassenmäßigen Grundlagen unseres Volkstums und durch sie wiederum die Sicherung der Vorbedingungen für die spätere kulturelle Weiterentwicklung!
Adolf Hitler“
„Wenn man fremdes Blut mit deutschem vermischt, da kann nichts Gutes dabei herauskommen“, sagte der Nachbar 20 Jahre später. Nicht zu Laura. Ein Freund hatte es ihr erzählt.
Eri war ein Jahr älter als Laura. Trotzdem besuchte sie die gleiche Klasse, denn es gab nur eine Zwergschule damals im Dorf. Lehrer Heck brachte den Kindern des ersten bis vierten Schuljahres Lesen und Schreiben bei, und was sonst noch dazu gehörte. Nur Musik unterrichtete Herr Kaschube, der Lehrer aus der Oberstufe. Er hatte eine schneidende Stimme und Laura fürchtete sich vor ihm. Im Krieg war er Offizier gewesen, daher rührte wohl sein Kasernenhofton auf dem Schulhof und in der Klasse.
Eri hatte zwei Schwestern. Britta und Christiane. Britta war ein Jahr älter und Christiane ein Jahr jünger.
Sechs Jahre gingen sie in die gleiche Klasse. Laura, ihre Freundin Christiane und Britta, die älteste Schwester. An Eri, die Mittlere, erinnert sich Laura nicht. Aber sie muss dabei gewesen sein, doch Laura hat sie nicht wahrgenommen in der Schule, weiß noch nicht einmal, neben wem sie saß.
Die Mutter von Britta, Eri und Christiane trug Jeans und fuhr auf dem Fahrrad durchs Dorf. Die anderen Mütter trugen an den Werktagen bunte Kittelschürzen und gingen zu Fuß. Zum Backhaus, auf den Acker, oder zu den Schrebergärten am Ende des Dorfes. Evis Mutter benutzte Lippenstift und hatte die langen Haare hochgesteckt. Die anderen Frauen im Dorf ließen sich die Haare beim Dorffriseur schneiden und eine Dauerwelle legen. Das war praktisch und sah ordentlich aus.
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