„Sehr geehrte Reisende, wir fliegen auf ein Gebiet mit einigen kleinen Turbulenzen zu. Wir bitten Sie, sich zu Ihrer eigenen Sicherheit anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Wir danken für Ihr Verständnis.“ Die Durchsage reißt Beatrice aus ihren Gedanken. Sie vergewissert sich, dass sie noch immer angeschnallt ist und wartet die folgende Ansage in spanischer Sprache ab, bevor sie wieder ihre Augen schließt. Sie versucht, die Gedanken dort aufzunehmen, wo sie soeben unsanft unterbrochen wurden. Aber es gelingt ihr nicht. Sie ist schläfrig geworden und kann die Gedanken nicht mehr ordnen. Sie kreisen um das „Warum nicht früher?“ wie Wellen, die aus der Oberfläche des Meeresspiegels sich langsam aufbauen. Und wenn sie ihre größte Höhe erreicht haben, an der man meint, sie fassen zu können, verlieren sie ihre Form und lösen sich in den sie umspülenden Wassermassen auf. Als wollten sie damit die Erinnerung an sie auszulöschen. Was Beatrice empfindet, bevor sie endgültig einschläft, ist das angenehme Gefühl der Gewohnheit und Sicherheit, das sich während der Ehe mit Tom ihrer ebenso bemächtigte wie jetzt der Schlaf.
Das Essen war nicht schlecht, jedenfalls für die Angebote in einem Flugzeug. Jetzt läuft über den Köpfen der Passagiere der obligatorische Spielfilm auf den kleinen, ausschwenkbaren Monitoren. Sie hat sich keine Kopfhörer geben lassen. Viel lieber will sie die wirren Gedanken ihres Schlafes, der eher einem Halbschlaf geglichen hat, wieder aufnehmen.
Warum habe ich ihn sterben lassen? Weshalb habe ich ihn nicht verlassen oder, einfacher noch: Ich hätte fahren können. Und als er tot war, warum habe ich nicht dann die Reise begonnen? Nein, sie kann sich nicht verzeihen, was sie getan hat und sie kann es auch nicht verstehen. Ist sie ein schlechter Mensch? Egoistisch darauf bedacht, die eigenen Lebensträume über das Leben eines Menschen zu stellen? Auch, um das herauszufinden, hat sie sich aufgemacht, in dieses Flugzeug zu steigen. Es ist ihre letzte Chance, sich selbst zu begreifen, wenn sie sich schon niemals verzeihen kann.
Nachdem Ellen die Auffahrt zu ihrem Haus hochgefahren ist und der Wagen stillsteht, hopst Sandra so schnell es geht aus dem Auto, nimmt ihren Teddy und den Rucksack und stampfte auf das Haus zu. Ellen und Simon bringen die Tüten in die Küche und achten wenig darauf, dass Sandra gleich in ihrem Zimmer verschwindet.
Dort setzt Sandra den Teddy auf das Kopfkissen, wo er immer sitzt, damit er alles sehen kann. Sie nimmt den Apfel aus dem Rucksack und legt ihn auf ihren kleinen Schreibtisch, den sie erst nach langem Drängen bekommen hat. Weil sie noch nicht wie ihr großer Bruder in die Schule gehen darf. Sie setzt sich und verschränkt die Arme auf der Schreibtischplatte. Den Kopf legt sie so, dass sie den Apfel anschauen kann. Er wird Oma gefallen. Hoffentlich sind alle Träume noch drinnen. Er hat keine angeschlagenen Stellen. Die Träume müssen eigentlich noch alle darin sein. Sie lächelt bei der Erinnerung an den Nachmittag, an dem Simon aus der Schule gekommen ist und Oma die Geschichte aus dem Religionsunterricht erzählt hat. Die Geschichte von Adam und Eva im Paradies. Und dass Gott gesagt habe, wenn sie von dem Apfel äßen, würden sie wissen, dass sie nackt sind und sie müssten dann aus dem Paradies heraus. Simon hat das mit dem Apfel nicht verstanden. Die Oma hat ein wenig herumgedruckst, Simon lange angeschaut und dann erklärt: „Weißt du, das ist so: Gott hat in den Äpfeln des Baumes der Erkenntnis die Träume der Menschen eingeschlossen, und wenn ein Mensch davon abbeißt, erweckt er die Träume zum Leben. Sie begleiten ihn und er muss deshalb aus dem Paradies, weil der Platz dort viel zu klein ist, um alle Träume zu leben. So viele Träume sind in einem Apfel.“
Simon hat zwar anfangs zugehört, aber dann ist er ungeduldig geworden, weil seine Lieblingssendung im Fernsehen angefangen hat.
Nur sie hat ehrfürchtig ihrer Oma gelauscht. Sie ist so ganz anders als die Omas ihrer Freundinnen. Sie weiß alles und ist nie genervt, wie Mama es manchmal ist, und sie hat immer Funken in den Augen. Aber Oma hat sie wohl gar nicht wahrgenommen und beim Verlassen der Küche leise gemurmelt: „Anstatt Tom zu heiraten, hätte ich mal auch besser in den Apfel gebissen. So bleiben meine Träume ungeträumt.“
Sandra hat versucht, mit Simon über die Apfelgeschichte zu sprechen, aber er hat gar nicht richtig zugehört. Er versteht oft gar nichts, obwohl er doch schon so viele Jahre älter ist. Manchmal findet sich Sandra viel erwachsener als ihn und es macht sie traurig, dass Oma offenbar immer lieber mit Simon zusammen ist als mit ihr.
Einmal hat sie Mama gefragt, weshalb Oma sie nicht so lieb hat wie Simon. Aber Mama hat ihr erklärt, das stimme nicht und ihr Eindruck läge bestimmt nur daran, dass sie einfach noch ein wenig zu klein sei, um sich über wichtige Sachen zu unterhalten. Sandra findet das gar nicht. Und wenn sie der Oma den Apfel zum Geburtstag schenkt, wird sich alles ändern. Sie wird Oma ihre Träume wiederbringen und dann wird sich Oma viel besser mit ihr unterhalten können als mit Simon.
Nachdem Ellen alle Einkäufe in den Schränken und im Kühlschrank verstaut hat, setzt sie den Wasserkessel auf den Herd und ruft nach oben: „Beatrice, wir sind zurück. Möchtest du auch einen Kaffee?“ Es kommt keine Antwort. Sie ruft noch einmal: „Beatrice, bist du da?“ Aber scheinbar ist sie noch zu einer Bekannten gegangen.
Ellen nimmt ihre Kaffeetasse und geht ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf den Sessel, lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Tisch. Simon hat gleich nach dem Einkaufen gefragt, ob er zu Pit, seinem besten Freund, gehen darf und Sandra ist noch immer oben in ihrem Zimmer. Sie ist gerne einmal allein. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der ständig jemanden um sich herum braucht und fast mehr bei seinen Freunden ist als zu Hause. Oder er bringt eine Horde von fünf, sechs Jungs hierher.
Ellen ist froh, dass das Chaos heute woanders stattfindet und sie ihre Ruhe hat. Sie würde sich jetzt nur gerne ein wenig mit Beatrice unterhalten. Ungewöhnlich, dass ihre Schwiegermutter keinen Zettel in der Küche hinterlassen hat. Normalerweise tut sie dies, wenn sie das Haus verlässt. Vielleicht wollte sie schneller als gedacht wieder zu Hause sein und kommt schon bald.
Ellen weiß auch nicht genau, weshalb sie sich so gerne mit Beatrice unterhält, denn eigentlich sagt ihre Schwiegermutter nicht viel bei diesen Gesprächen. Aber trotzdem strömt sie eine solche Ruhe und Gelassenheit aus, dass allein ihre Anwesenheit Sicherheit und Geborgenheit gibt. Es ist wohltuend zu wissen, dass noch jemand da ist, der notfalls hilfreich eingreifen kann, wenn man sich selbst überfordert fühlt. Für Beatrice scheint es derartige Probleme nie gegeben zu haben. Sie denkt und lebt gradlinig, und selbst den plötzlichen Tod ihres Mannes hat sie gut verkraftet.
Ellen hatte zunächst Angst, wie es wohl sein würde, Beatrice den ganzen Tag um sich zu haben. Als Steven den Vorschlag machte, seine Mutter nach dem plötzlichen Tod des Vaters bei sich aufzunehmen, hat sie trotzdem alle Bedenken heruntergeschluckt und zugestimmt. In der ersten Zeit war Beatrice oft allein in ihrem Zimmer geblieben. Aber so langsam sind es vor allen Dingen die Kinder gewesen, die sie zu einem normalen Leben zurückführten. Ellen war erstaunt, wie unheimlich warmherzig Beatrice sein konnte, ohne sich jemals in persönliche Dinge wie Kindererziehung oder ihre Ehe mit Steven einzumischen. Sie kennt keinen anderen Menschen, der so viel Nähe und gleichzeitig Distanz ausströmt. Alle ihre Freundinnen, die sie davor gewarnt haben, sich nur nicht zu sehr mit ihrer Schwiegermutter anzufreunden, weil sie sich dann überall einmischen würde, haben sich geirrt. Wenn Beatrice gefragt wird, sagt sie offen und unverblümt ihre Meinung, auch gegenüber den Kindern. Aber niemals ist auch nur eine Spur von Vorwurf in ihren Worten, wenn Ellen oder Steven eine andere Meinung vertreten. Ein Außenstehender könnte denken, sie sei eine freiwillig ausgewählte, mütterliche Freundin.
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