Anton Hillebrand zuckt die Schultern. „Bis heute Abend. Kann aber auch später werden.“
Seine Frau Elisabeth sah ihrem Mann besorgt nach. Um den Küchentisch saßen drei ihrer fünf Kinder. Das Kleinste spielte fröhlich im Laufstall und unternahm seine ersten Sprachversuche. Die dreizehnjährige Else befand sich in der Volksschule.
Hatte Anton Hillebrand eine Vorahnung? Dass der Tag heute nicht so glimpflich verlaufen würde? Seine Beschwichtigungen, mit denen er seine Frau zu beruhigen versuchte, hatten heute nicht sehr überzeugend geklungen. Natürlich war es fast aussichtslos, einem Tieffliegerangriff zu entkommen. Bis man vom Führersttand hinuntergesprungen und unter den Wagen verschwunden war, vergingen endlos scheinende Sekunden. Die tödlichen Garben aus den Bordkanonen waren schneller. Und einen rettenden Tunnel, den er seiner Frau in Aussicht gestellt hatte, konnte er nicht herbeizaubern.
Heute befährt Hillebrand die Strecke Ottbergen – Nordhausen. Vor dem Bahnhof Wulfen steht das Signal auf Rot. Fliegeralarm! In den Bahnhof zu fahren, würde doppelte Gefahr bedeuten: einmal für den Zug, zum anderen für das Bahnhofsgebäude mit den Menschen auf den Bahnsteigen und im Wartesaal sowie für die Bediensteten vor Ort. Deshalb gilt der strenge Befehl, Züge immer außerhalb der Bahnhofsanlagen anzuhalten. Lokomotiven sind das erklärte Ziel der Jagdbomber. Es war vorgekommen, dass ein einziger Eisenbahnzug, der von Altenbeken über Ottbergen, Wehrden nach Scherfede geleitet werden musste, mehrere, ja bis zu sechs Lokwechsel benötigte, weil die Maschinen durch Beschuss aus Bordkanonen ausgefallen waren.
An diesem Tag, dem 11. September 1944, wird die Lok von Anton Hillebrand auf freier Strecke durch 52 Schüsse bewegungsunfähig gemacht. Der Heizer wird noch an seinem Arbeitsplatz auf dem Führerstand getroffen.
Er ist sofort tot.
Johannes kam aus der Schule heim. Er warf den Tornister in die Ecke und setzte sich an den Mittagstisch vor die Schüssel mit dampfendem Kartoffelbrei, einem viergeteilten Stück Speck und einer Lage Sauerkraut. Er wartete das Tischgebet nicht ab, sondern griff gleich nach der Kelle, um sich den Teller vollzupacken.
„Was ist los? Hast du ausnahmsweise mal eine gute Note bekommen, oder wie darf ich deinen Freudenausbruch verstehen?“ Mutter Helga Köhne starrte befremdend ihren Sohn an und nahm ihm die Kelle aus der Hand. Die Geschwister grinsten.
„Ich werde Luftspäher!“, verkündete Johannes stolz.
„Luftspäher?“
„Ja, das sind Leute, die auf Lastkraftwagen, auf Eisenbahntransporten und Personenzügen nach feindlichen Flugzeugen Ausschau halten und Meldung machen.“
„Bist du verrückt, dich für einen solchen Einsatz zu melden? Oder hat dich der Lehrer dazu überredet? Warte, dem werde ich einheizen!“
Johannes schob eine Gabel voll Kartoffelbrei in den Mund. „Ich werde im nächsten Monat sechzehn“, sagte er, nachdem er ausgekaut hatte. „Nach Schulabschluss kann ich einberufen werden. Flakhelfer oder so. Oder gleich Soldat. Einige meiner Schulkameraden mussten sich schon melden. Der Lehrer meint, besser, als an die Front zu müssen, sei, auf Kübelwagen durch die Gegend zu fahren.“
„So, meint er das?“ Im Stillen leistete Frau Köhne dem Lehrer Abbitte. So blieb ihr Sohn wenigstens der Heimat erhalten. Allerdings war auch die Tätigkeit eines Luftspähers nicht ungefährlich. Denn inzwischen verging kein Tag ohne Flugzeugangriffe aus heiterem Himmel.
„Johannes wird ein Hans guck in die Luft!“, rief der achtjährige Bruder Franz. „Ich würde auch gern in der Gegend herumjuckeln.“
„Ich juckele dir gleich ein paar hinter die Ohren“, warnte die Mutter. „Still jetzt. Jetzt wird gegessen. Ich möchte keinen Mucks mehr hören.“
Alle kannten die Geschichte vom Hans guck in die Luft aus dem „Struwwelpeter“. War das nicht ein jüdischer Junge, seine Nase war so eigenartig gebogen? Nein, sicher nicht. Denn den hätte niemand aus dem Wasser gezogen, nachdem er hineingeplumpst war.
Nachmittags traf Frau Köhne zufällig den Lehrer auf der Straße.
„Ich möchte mich bedanken.“
„So? Wofür?“
„Dass Sie meinen Sohn vor dem Militär …“
„Ist doch ein schöner Tag heute, Frau Köhne, nicht wahr? Genießen Sie die Sonne. Bald kommt der Winter – und es wird ganz schön kalt.“
Schreiner Georg Köhne stand an der Ostfront. Von dort kamen bedrohliche Nachrichten. Der Russe rückte auf Ostpreußen vor. Zwar verkündete der Deutschlandsender immer noch Siegeszuversicht, aber die Menschen waren ja nicht dumm. Sie hielten nichts von Goebbels Durchhalteparolen und von der Ankündigung der Wunderwaffe .
Nachdem die Städte weitgehend zu Tode bombardiert worden waren und in Trümmern lagen, konzentrierten sich die feindlichen Angriffe von Woche zu Woche mehr auf das Land. Die deutsche Luftabwehr versagte. Es fehlte an Maschinen und Sprit, um die immer frecher und ungestörter einfliegenden Flugzeuge von ihren tödlichen Angriffen abzuhalten. Es war wie ein Wunder, dass dennoch manche schwere Fliegende Festungen vom Himmel geschossen wurden.
„Hast ja jetzt eine toll gemästete Gans am Schlafittchen.“ Auguste Rein stand am Stankett und grinste.
Meinolf Engelhardt fuhr herum. Er hatte die neugierige Nachbarin, die ihre Nase gern in anderer Leute Angelegenheiten steckte, nicht gesehen. Es war ihre Art, sich anzuschleichen und die Menschen zu erschrecken.
„Wen meinst du mit ‚gemästeter Gans‘?“
„Na, den Herrn NS-Funktionär, der sich aufplustert wie ein Enterich und sich wichtig tut wie ein kleiner Herrgott.“
Auguste Rein, fast siebzig, schütteres, strähniges Haar, stand am Gartenzaun, dort, wo der Johannisbeerstrauch sie halb verdeckte, und feixte.
„Nicht so forsch, Auguste, nicht so forsch. Du weißt, Feind hört mit!“
„Soll er hören. Ich habe den Paragraphen. Ich darf reden, wie‘s mir gefällt.“ Auguste zupfte an den Trägern ihrer Küchenschürze, die sich über einem strammen Busen wölbte.
„Der Paragraph schützt dich nicht, wenn du‘s zu bunt treibst. Herr Müller wird sich bei dir bedanken, wenn er erfährt, wie du über ihn denkst.“
Engelhardt stützte die Holzscheite, die er in der Armbeuge trug und die ihm langsam zu schwer wurden, auf dem Zaun ab.
„So, Müller heißt der Kerl. Heißt Müller, aber ein Müller ist er nicht.“
„Auguste, du solltest den Mund nicht so voll nehmen und mich nicht andauernd erschrecken.“
„Mund zu voll? Jemand, den man zwangssterilisiert hat, muss hinausschreien, was für ein Unrecht ihm geschehen ist! Hast du gestern nicht den schwarzen Rauch über meinem Kamin gesehen? Ich habe das Buch ,Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind` in Jauche getunkt und dann verbrannt.“
Engelhardt wusste, dass Auguste Rein unbelehrbar war. Beider Grundstücke grenzten aneinander. Zur Ausweitung seines eigenen Besitzes hätte er der Nachbarin gern ein paar Parzellen abgekauft, doch sie wollte nicht, und es war auch zweifelhaft, ob sie bei ihrer medizinischen und sozialen Einstufung wirtschaftsfähig war. Auguste Rein rief: „Unheil, Herr Hitler!“ rauschte davon und betrat durch den Hintereingang ihr kleines Haus. Die Tür führte direkt in die Küche. Ihr Mann war bei einem Erdrutsch im Steinbruch ums Leben gekommen. Kinder hatte man ihnen zwangsweise verwehrt.
„Na, hat dich Auguste wieder an ihr Herz gedrückt?“, erkundigte sich Antonie. „Ich sehe es dir an, denn du hast rote Ohren.“
Der Wirt warf die Holzscheite in den Weidenkorb neben dem Küchenherd.
„Kommt von der Kälte. Es geht ein frischer Wind“, entgegnete er. „Sie redet viel, wenn der Tag lang ist, und leider nicht stubenrein. Wenn unser Müller das mitkriegt …“
Antonie trat ein paar Schritte auf ihren Mann zu, fasste ihn am Revers und sagte leise: „Unser Müller? Unser Müller kann uns eines Tages vielleicht behilflich sein.“
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